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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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einen Lesefehler in des Aristoteles Poetik zurückzuführen scheint, wo vom
Gegentheil die Rede ist.

Auch das indische und chinesische Theater wird nur im Umriß dargestellt,
wenn schon um vieles genügender. Es folgen die neulateinischen Dramen
in guter Uebersicht; der Christos paschon ("ohnehin ein griechisches Werk")
wird kurz abgefertigt, dagegen ist Hroswitha als "ein Stern ohne Gleichen
an diesem Wolkenhimmel der dramatischen Kindheitsperiode" warm gewürdigt,
ohne daß freilich der Verfasser in der Frage nach der Aechtheit ihrer Komö¬
dien bestimmte Stellung zu nehmen vermag.

Die Glanzpartie der vorliegenden Bände ist die Darstellung der Mysterien
und Passionsspiele. Daß die Worte eines unserer jetzigen deutschen Historiker,
die er seinen Schülern zuzurufen pflegte: "Der Prüfstein des ächten Ge¬
lehrten sei das Maaß von langer Weile, das er zu ertragen vermöge", kein
bloßer Scherz sind, wird jeder, der sich in die Massen jener weitschichtigen
und monotonen Dichtungen selbst einzuarbeiten versuchte, mit Seufzen er¬
fahren haben. Hier hat nun Royer zum ersten Mal vereinigt, was auf der
Pariser Bibliothek von Materialien vorhanden war und dieselben in vor¬
trefflicher Ordnung beschrieben, überall interessante Stellen hervorgehoben und
zu der weiteren Durchforschung und Verwerthung vieler nie abgedruckter und
fast unbenützter Manuscripre als einer Aufgabe, Schweißes der Edlen werth,
die nachdrücklichsten Hinweise gegeben. Gern wollen wir ihm dafür zu gute
halten, wenn er bei einer Handschrift von mehreren Myriaden Versen be¬
kennt, er habe, da sie schwierig zu entziffern sei, erst angefangen, sie zu lesen;
ein Bekenntniß, das deutschen Gelehrten seltener begegnen wird. Auf
die Jnscenirung der Mysterien, worüber bekanntlich noch sehr entgegen¬
gesetzte Ansichten herrschen, ist er näher eingegangen und hier kommen ihm
die Erfahrungen seiner Bühnenleitung besonders zu statten. Wichtig ist, daß
er für jene Aufführungen im Widerspruch zu der noch immer landläufigen
Meinung von einer Uebereinandersetzung verschiedener Bühnen die Neben¬
einanderstellung derselben definitiv nachweist.

Herr Royer ist trotz seines Geschmackes für die Reize der Fremde doch
durch und durch Franzose und die altfranzösischen Mysterien gelten ihm für
schöner als die aller anderen Länder. Auch die weltliche altfranzösische
Literatur stellt er sehr hoch. Es ist seine besondere Freude, die Anfänge der¬
selben wieder aufgraben zu helfen, und er ruft seinen Landsleuten mit pa¬
triotischem Kummer zu, wie es möglich sei, daß in Deutschland und Italien
Lehrstühle für dieses Idiom existirten und ein deutscher Professor (Bartsch)
eine sorgfältige Chrestomathie desselben habe herausgeben können, während in
Frankreich die Universität es vernachlässige und die große Menge es für
barbarisch ansehe.


einen Lesefehler in des Aristoteles Poetik zurückzuführen scheint, wo vom
Gegentheil die Rede ist.

Auch das indische und chinesische Theater wird nur im Umriß dargestellt,
wenn schon um vieles genügender. Es folgen die neulateinischen Dramen
in guter Uebersicht; der Christos paschon („ohnehin ein griechisches Werk")
wird kurz abgefertigt, dagegen ist Hroswitha als „ein Stern ohne Gleichen
an diesem Wolkenhimmel der dramatischen Kindheitsperiode" warm gewürdigt,
ohne daß freilich der Verfasser in der Frage nach der Aechtheit ihrer Komö¬
dien bestimmte Stellung zu nehmen vermag.

Die Glanzpartie der vorliegenden Bände ist die Darstellung der Mysterien
und Passionsspiele. Daß die Worte eines unserer jetzigen deutschen Historiker,
die er seinen Schülern zuzurufen pflegte: „Der Prüfstein des ächten Ge¬
lehrten sei das Maaß von langer Weile, das er zu ertragen vermöge", kein
bloßer Scherz sind, wird jeder, der sich in die Massen jener weitschichtigen
und monotonen Dichtungen selbst einzuarbeiten versuchte, mit Seufzen er¬
fahren haben. Hier hat nun Royer zum ersten Mal vereinigt, was auf der
Pariser Bibliothek von Materialien vorhanden war und dieselben in vor¬
trefflicher Ordnung beschrieben, überall interessante Stellen hervorgehoben und
zu der weiteren Durchforschung und Verwerthung vieler nie abgedruckter und
fast unbenützter Manuscripre als einer Aufgabe, Schweißes der Edlen werth,
die nachdrücklichsten Hinweise gegeben. Gern wollen wir ihm dafür zu gute
halten, wenn er bei einer Handschrift von mehreren Myriaden Versen be¬
kennt, er habe, da sie schwierig zu entziffern sei, erst angefangen, sie zu lesen;
ein Bekenntniß, das deutschen Gelehrten seltener begegnen wird. Auf
die Jnscenirung der Mysterien, worüber bekanntlich noch sehr entgegen¬
gesetzte Ansichten herrschen, ist er näher eingegangen und hier kommen ihm
die Erfahrungen seiner Bühnenleitung besonders zu statten. Wichtig ist, daß
er für jene Aufführungen im Widerspruch zu der noch immer landläufigen
Meinung von einer Uebereinandersetzung verschiedener Bühnen die Neben¬
einanderstellung derselben definitiv nachweist.

Herr Royer ist trotz seines Geschmackes für die Reize der Fremde doch
durch und durch Franzose und die altfranzösischen Mysterien gelten ihm für
schöner als die aller anderen Länder. Auch die weltliche altfranzösische
Literatur stellt er sehr hoch. Es ist seine besondere Freude, die Anfänge der¬
selben wieder aufgraben zu helfen, und er ruft seinen Landsleuten mit pa¬
triotischem Kummer zu, wie es möglich sei, daß in Deutschland und Italien
Lehrstühle für dieses Idiom existirten und ein deutscher Professor (Bartsch)
eine sorgfältige Chrestomathie desselben habe herausgeben können, während in
Frankreich die Universität es vernachlässige und die große Menge es für
barbarisch ansehe.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/164>, abgerufen am 25.08.2024.