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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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Freimüthigkeit, wie tief das moderne französische Drama an unmoralischen
Elementen krankt und wie wenig die bloße elegante Form den Mangel an
ächtem Gehalt ersetzen kann. Das Gefühl von der Würde eines Vorwurfs
verläßt ihn nie und gibt seinem Stil eine gewisse Weihe; überall findet man
Aufrichtigkeit und Wärme, nirgend Pedanterie und hohle Phrase. Dabei
liest sich das Buch -- auch anderwärts ein seltener Fall -- in allen Theilen
gleich interessant; und doch zeigt Herr Royer sehr wenig von dem Brillant¬
feuerwerk blendenden Esprits, mit dem seine Landsleute die nichtigsten wie
die gewichtigsten Materien überschütten; ja er scheint es geflissentlich zu ver¬
meiden, auch wo die Sache selbst dazu einläd, diesen leichten Flug zu wagen.
Dafür versteht er die Kunst, in seiner ernsten Weise gut zu gruppiren und
die dramatischen Situationen, deren Wirksamkeit er in praktischer Thätigkeit
erfahren, selbst zu uns reden zu lassen. Holtet sagt einmal, um sich zu ent¬
schuldigen, daß er einige seiner geringeren Sachen wieder drucken lassen, es
fänden sich oft auch in sonst unbedeutenden Stücken vereinzelte Motive und
Anregungen, um deretwillen ein Kenner sie nicht ungern erhalten sehen
würde. Solche Motive weiß Herr Royer mit besonderem Geschick zu finden
und hervorzuheben und er begnügt sich, dies zu thun, wo die Analyse des
ganzen Stückes unerquicklich oder anstößig wäre. In der That mußte näm¬
lich vieles sehr skizzenhaft gehalten werden, da der ganze ungeheure Stoff in
fünf Bänden bewältigt werden soll. Der Verfasser beherrscht sein Material
dergestalt, daß die zwei vorliegenden Theile wirklich bereits bis zur Schließung
der englischen Bühne durch die Puritaner führen. Seine Auswahl ist immer
taetooll und ohne grobe Lücken; bei bedeutenderen Werken versäumt er nie,
zu eigener Durchforschung anzuregen.

Am kärglichsten ist das römische und griechische Alterthum weggekommen.
Es lag dies, wie der Verfasser versichert, ausdrücklich in seinem Plane, "weil
die Werke, die uns aus dieser Epoche geblieben, allzubekannt seien", -- ein
Axiom, nach dem Herr Royer auch an späteren Stellen verfährt, das aber
mit dem oben ausgesprochenen Hauptzweck des Buches gerade hier am
wenigsten in Einklang zu bringen war. Eine tiefere Würdigung der antiken
Dramen, vielleicht selbst Wiederaufführungen der bedeutendsten anzubahnen
(meines Wissens ist nur mit der Antigone ein sehr vorübergehender Versuch
gemacht worden) würde in Frankreich, dessen classische Tragödien so viele
Irrthümer über das antike Wesen in Geltung erhalten haben, besonders
verdienstlich gewesen sein. Doch liegt, die Wahrheit zu sagen, dieses Gebiet
überhaupt den Studien des Verfassers ferner; wenigstens kommen hier aller¬
hand unerfreuliche Versehen vor; wir wollen nur das stärkste notiren: wenn
er sagt, Sophocles habe den Menschen wie er ist, Euripides dagegen den
Menschen wie er sein sollte zeichnen wollen, so ist das ein bon mot, das auf


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Freimüthigkeit, wie tief das moderne französische Drama an unmoralischen
Elementen krankt und wie wenig die bloße elegante Form den Mangel an
ächtem Gehalt ersetzen kann. Das Gefühl von der Würde eines Vorwurfs
verläßt ihn nie und gibt seinem Stil eine gewisse Weihe; überall findet man
Aufrichtigkeit und Wärme, nirgend Pedanterie und hohle Phrase. Dabei
liest sich das Buch — auch anderwärts ein seltener Fall — in allen Theilen
gleich interessant; und doch zeigt Herr Royer sehr wenig von dem Brillant¬
feuerwerk blendenden Esprits, mit dem seine Landsleute die nichtigsten wie
die gewichtigsten Materien überschütten; ja er scheint es geflissentlich zu ver¬
meiden, auch wo die Sache selbst dazu einläd, diesen leichten Flug zu wagen.
Dafür versteht er die Kunst, in seiner ernsten Weise gut zu gruppiren und
die dramatischen Situationen, deren Wirksamkeit er in praktischer Thätigkeit
erfahren, selbst zu uns reden zu lassen. Holtet sagt einmal, um sich zu ent¬
schuldigen, daß er einige seiner geringeren Sachen wieder drucken lassen, es
fänden sich oft auch in sonst unbedeutenden Stücken vereinzelte Motive und
Anregungen, um deretwillen ein Kenner sie nicht ungern erhalten sehen
würde. Solche Motive weiß Herr Royer mit besonderem Geschick zu finden
und hervorzuheben und er begnügt sich, dies zu thun, wo die Analyse des
ganzen Stückes unerquicklich oder anstößig wäre. In der That mußte näm¬
lich vieles sehr skizzenhaft gehalten werden, da der ganze ungeheure Stoff in
fünf Bänden bewältigt werden soll. Der Verfasser beherrscht sein Material
dergestalt, daß die zwei vorliegenden Theile wirklich bereits bis zur Schließung
der englischen Bühne durch die Puritaner führen. Seine Auswahl ist immer
taetooll und ohne grobe Lücken; bei bedeutenderen Werken versäumt er nie,
zu eigener Durchforschung anzuregen.

Am kärglichsten ist das römische und griechische Alterthum weggekommen.
Es lag dies, wie der Verfasser versichert, ausdrücklich in seinem Plane, „weil
die Werke, die uns aus dieser Epoche geblieben, allzubekannt seien", — ein
Axiom, nach dem Herr Royer auch an späteren Stellen verfährt, das aber
mit dem oben ausgesprochenen Hauptzweck des Buches gerade hier am
wenigsten in Einklang zu bringen war. Eine tiefere Würdigung der antiken
Dramen, vielleicht selbst Wiederaufführungen der bedeutendsten anzubahnen
(meines Wissens ist nur mit der Antigone ein sehr vorübergehender Versuch
gemacht worden) würde in Frankreich, dessen classische Tragödien so viele
Irrthümer über das antike Wesen in Geltung erhalten haben, besonders
verdienstlich gewesen sein. Doch liegt, die Wahrheit zu sagen, dieses Gebiet
überhaupt den Studien des Verfassers ferner; wenigstens kommen hier aller¬
hand unerfreuliche Versehen vor; wir wollen nur das stärkste notiren: wenn
er sagt, Sophocles habe den Menschen wie er ist, Euripides dagegen den
Menschen wie er sein sollte zeichnen wollen, so ist das ein bon mot, das auf


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[0163] Freimüthigkeit, wie tief das moderne französische Drama an unmoralischen Elementen krankt und wie wenig die bloße elegante Form den Mangel an ächtem Gehalt ersetzen kann. Das Gefühl von der Würde eines Vorwurfs verläßt ihn nie und gibt seinem Stil eine gewisse Weihe; überall findet man Aufrichtigkeit und Wärme, nirgend Pedanterie und hohle Phrase. Dabei liest sich das Buch — auch anderwärts ein seltener Fall — in allen Theilen gleich interessant; und doch zeigt Herr Royer sehr wenig von dem Brillant¬ feuerwerk blendenden Esprits, mit dem seine Landsleute die nichtigsten wie die gewichtigsten Materien überschütten; ja er scheint es geflissentlich zu ver¬ meiden, auch wo die Sache selbst dazu einläd, diesen leichten Flug zu wagen. Dafür versteht er die Kunst, in seiner ernsten Weise gut zu gruppiren und die dramatischen Situationen, deren Wirksamkeit er in praktischer Thätigkeit erfahren, selbst zu uns reden zu lassen. Holtet sagt einmal, um sich zu ent¬ schuldigen, daß er einige seiner geringeren Sachen wieder drucken lassen, es fänden sich oft auch in sonst unbedeutenden Stücken vereinzelte Motive und Anregungen, um deretwillen ein Kenner sie nicht ungern erhalten sehen würde. Solche Motive weiß Herr Royer mit besonderem Geschick zu finden und hervorzuheben und er begnügt sich, dies zu thun, wo die Analyse des ganzen Stückes unerquicklich oder anstößig wäre. In der That mußte näm¬ lich vieles sehr skizzenhaft gehalten werden, da der ganze ungeheure Stoff in fünf Bänden bewältigt werden soll. Der Verfasser beherrscht sein Material dergestalt, daß die zwei vorliegenden Theile wirklich bereits bis zur Schließung der englischen Bühne durch die Puritaner führen. Seine Auswahl ist immer taetooll und ohne grobe Lücken; bei bedeutenderen Werken versäumt er nie, zu eigener Durchforschung anzuregen. Am kärglichsten ist das römische und griechische Alterthum weggekommen. Es lag dies, wie der Verfasser versichert, ausdrücklich in seinem Plane, „weil die Werke, die uns aus dieser Epoche geblieben, allzubekannt seien", — ein Axiom, nach dem Herr Royer auch an späteren Stellen verfährt, das aber mit dem oben ausgesprochenen Hauptzweck des Buches gerade hier am wenigsten in Einklang zu bringen war. Eine tiefere Würdigung der antiken Dramen, vielleicht selbst Wiederaufführungen der bedeutendsten anzubahnen (meines Wissens ist nur mit der Antigone ein sehr vorübergehender Versuch gemacht worden) würde in Frankreich, dessen classische Tragödien so viele Irrthümer über das antike Wesen in Geltung erhalten haben, besonders verdienstlich gewesen sein. Doch liegt, die Wahrheit zu sagen, dieses Gebiet überhaupt den Studien des Verfassers ferner; wenigstens kommen hier aller¬ hand unerfreuliche Versehen vor; wir wollen nur das stärkste notiren: wenn er sagt, Sophocles habe den Menschen wie er ist, Euripides dagegen den Menschen wie er sein sollte zeichnen wollen, so ist das ein bon mot, das auf 20*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/163>, abgerufen am 25.08.2024.