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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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wie die Goluchowskische Politik in Lemberg. Wie groß der Einfluß ist, den
die Fabel von den "alten Grenzen" aus die Geschichte des Aufstandes (1863)
geübt hat, wissen die meisten polnischen Führer; sie hat an dem Abschluß
der preußisch-russischen Convention einen ebenso erheblichen Antheil gehabt,
wie an der russischen Nationalbegeisterung, die erst wachgerufen wurde, als
es sich um den Besitz der westlichen und nordwestlichen Provinzen (General-
Gouvernement Kiew und Wilna) handelte. Und dennoch hat es keiner dieser
Parteiführer gewagt, von der harten Lehre, die man empfing. Vortheil zu
ziehen und den Genossen Beschränkung auf die Territorien zu rathen, welche
noch von compacten polnischen Massen bewohnt werden.

Auf die neusten Vorgänge und die Rolle, welche die Todtenfeier König
Kasimirs gespielt hat, werden wir das nächste Mal ausführlich zurückkommen.




Eine französische Geschichte des Theaters.

^.Ixkonzö Rover: Liswire universelle an lIMtrö. Band 1 u. 2. Paris,
Frank 1869.

Jener Zug nach dem Fremden und in die Fremde, wie er unserm
deutschen Volkscharakter eignet, hat in edleren deutschen Naturen immer nur
in Gestalt der Ueberzeugung oder der Fiction existirt, "daß alles Beste uns
national sei." Auch in der Periode buntester Nachahmungssucht tritt bei
ihnen das Bestreben leuchtend hervor, den Geist, den man daheim unter den
Verhältnissen traurigster Zersplitterung und Beschränkung nach allen Seiten
zu dämpfen suchte, durch einen frischeren Hauch aus der Fremde zu beleben.
Die Zeit aber, in der unsere Literatur zur Selbständigkeit zu erwachen be¬
gann, war zugleich die, in der sich zeigte, daß die höchsten literarischen Schätze
der Fremde auch uns ein theures Eigenthum geworden, oft noch mehr, als
sie es dem Lande geblieben, das sie einst erzeugt; daß der Geist, der aus
ihnen durch alle Jahrhunderte spricht, tief in Blut und Leben eingedrungen,
in unsern nationalen Schöpfungen sich neu verkörperte.

Dagegen sind unsere Nachbarvölker in ihrem gesammten Treiben
von dem umgekehrten Credo ausgegangen: daß Alles, was ihnen irgend¬
wie -- durch Race und Klima, durch Gewohnheit oder Zufall -- national
sei, auch das Beste sein müsse. Weshalb sie denn fast alle materiell und


wie die Goluchowskische Politik in Lemberg. Wie groß der Einfluß ist, den
die Fabel von den „alten Grenzen" aus die Geschichte des Aufstandes (1863)
geübt hat, wissen die meisten polnischen Führer; sie hat an dem Abschluß
der preußisch-russischen Convention einen ebenso erheblichen Antheil gehabt,
wie an der russischen Nationalbegeisterung, die erst wachgerufen wurde, als
es sich um den Besitz der westlichen und nordwestlichen Provinzen (General-
Gouvernement Kiew und Wilna) handelte. Und dennoch hat es keiner dieser
Parteiführer gewagt, von der harten Lehre, die man empfing. Vortheil zu
ziehen und den Genossen Beschränkung auf die Territorien zu rathen, welche
noch von compacten polnischen Massen bewohnt werden.

Auf die neusten Vorgänge und die Rolle, welche die Todtenfeier König
Kasimirs gespielt hat, werden wir das nächste Mal ausführlich zurückkommen.




Eine französische Geschichte des Theaters.

^.Ixkonzö Rover: Liswire universelle an lIMtrö. Band 1 u. 2. Paris,
Frank 1869.

Jener Zug nach dem Fremden und in die Fremde, wie er unserm
deutschen Volkscharakter eignet, hat in edleren deutschen Naturen immer nur
in Gestalt der Ueberzeugung oder der Fiction existirt, „daß alles Beste uns
national sei." Auch in der Periode buntester Nachahmungssucht tritt bei
ihnen das Bestreben leuchtend hervor, den Geist, den man daheim unter den
Verhältnissen traurigster Zersplitterung und Beschränkung nach allen Seiten
zu dämpfen suchte, durch einen frischeren Hauch aus der Fremde zu beleben.
Die Zeit aber, in der unsere Literatur zur Selbständigkeit zu erwachen be¬
gann, war zugleich die, in der sich zeigte, daß die höchsten literarischen Schätze
der Fremde auch uns ein theures Eigenthum geworden, oft noch mehr, als
sie es dem Lande geblieben, das sie einst erzeugt; daß der Geist, der aus
ihnen durch alle Jahrhunderte spricht, tief in Blut und Leben eingedrungen,
in unsern nationalen Schöpfungen sich neu verkörperte.

Dagegen sind unsere Nachbarvölker in ihrem gesammten Treiben
von dem umgekehrten Credo ausgegangen: daß Alles, was ihnen irgend¬
wie — durch Race und Klima, durch Gewohnheit oder Zufall — national
sei, auch das Beste sein müsse. Weshalb sie denn fast alle materiell und


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[0159] wie die Goluchowskische Politik in Lemberg. Wie groß der Einfluß ist, den die Fabel von den „alten Grenzen" aus die Geschichte des Aufstandes (1863) geübt hat, wissen die meisten polnischen Führer; sie hat an dem Abschluß der preußisch-russischen Convention einen ebenso erheblichen Antheil gehabt, wie an der russischen Nationalbegeisterung, die erst wachgerufen wurde, als es sich um den Besitz der westlichen und nordwestlichen Provinzen (General- Gouvernement Kiew und Wilna) handelte. Und dennoch hat es keiner dieser Parteiführer gewagt, von der harten Lehre, die man empfing. Vortheil zu ziehen und den Genossen Beschränkung auf die Territorien zu rathen, welche noch von compacten polnischen Massen bewohnt werden. Auf die neusten Vorgänge und die Rolle, welche die Todtenfeier König Kasimirs gespielt hat, werden wir das nächste Mal ausführlich zurückkommen. Eine französische Geschichte des Theaters. ^.Ixkonzö Rover: Liswire universelle an lIMtrö. Band 1 u. 2. Paris, Frank 1869. Jener Zug nach dem Fremden und in die Fremde, wie er unserm deutschen Volkscharakter eignet, hat in edleren deutschen Naturen immer nur in Gestalt der Ueberzeugung oder der Fiction existirt, „daß alles Beste uns national sei." Auch in der Periode buntester Nachahmungssucht tritt bei ihnen das Bestreben leuchtend hervor, den Geist, den man daheim unter den Verhältnissen traurigster Zersplitterung und Beschränkung nach allen Seiten zu dämpfen suchte, durch einen frischeren Hauch aus der Fremde zu beleben. Die Zeit aber, in der unsere Literatur zur Selbständigkeit zu erwachen be¬ gann, war zugleich die, in der sich zeigte, daß die höchsten literarischen Schätze der Fremde auch uns ein theures Eigenthum geworden, oft noch mehr, als sie es dem Lande geblieben, das sie einst erzeugt; daß der Geist, der aus ihnen durch alle Jahrhunderte spricht, tief in Blut und Leben eingedrungen, in unsern nationalen Schöpfungen sich neu verkörperte. Dagegen sind unsere Nachbarvölker in ihrem gesammten Treiben von dem umgekehrten Credo ausgegangen: daß Alles, was ihnen irgend¬ wie — durch Race und Klima, durch Gewohnheit oder Zufall — national sei, auch das Beste sein müsse. Weshalb sie denn fast alle materiell und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/159>, abgerufen am 25.08.2024.