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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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gang der fünfziger Jahre gründete der bekannte Kostomarow ein kleinrussisches
Journal "Oßnowa" welches sich zur Aufgabe machte, die Eigenthümlichkeiten
der kleinrussischen Sprache zu erhalten und auszubilden, eine Literatur dieses
Dialects und ein an die ruhmreichen Erinnerungen der Ukraine anknüpfendes
specifisch-kleinrussisches Bewußtsein zu schaffen. Dieses Bestreben sand anfangs
Anklang und wurde von einer Anzahl talentvoller Volksdichter und Novel¬
listen unterstützt, unter denen namentlich Marko Wowtschek genannt zu werden
verdient. Als die Moskausche Zeitung aber nach Niederschlagung des pol¬
nischen Aufstandes die neue, ausschließlich nationale Aera einleitete und ihre
Treibjagden nach "Separatisten" begann, wurden nicht nur die Finnländer,
Liv-, Est-, Kurländer, Greusier u. s. w. sondern auch die harmlosen Ukraino-
philen (so nannte man die kleinrussische Literatenpartei) als Staatsseinde und
Gegner der Reichseinheit denuncirt auf die Proscriptionsliste gesetzt. -- In
Galizien machte der Fanatismus der Moskaner Publicisten, die dem Klein"
russenthum ohne allen Grund den Krieg erklärt hatten, einen peinlichen Ein¬
druck und die Journalisten des Slowo hatten alle Mühe denselben zu ver¬
wischen. Sie konnten aber nicht verhindern, daß ein Theil der galizischen
Parteiführer fortan eine reservirte Stellung einnahm und offen erklärte, bei
aller Einsicht in die Nothwendigkeit einer Annäherung an Rußland, auf die
Eigenthümlichkeiten des Vaterlandes nicht ohne Weiteres Verzicht leisten zu
wollen. Diese specifischen Kleinrussen denken sich das Verhältniß ihrer Hei¬
math zu dem Moskaner Grohrussenthum als ein förderatives, während die
Swätojurzen ganz direct auf das Aufgehen in den großrussischen Stamm
und den von diesem geschaffenen Staat losarbeiten. Während die Partei des
Slowo so rasch und überstürzt in das großrussische Lager übergangen ist, daß
die Masse der Nation ihr nicht folgen konnte, üben die Anhänger des Klein-
russenthums auf dieselbe schon darum beträchtlichen Einfluß, weil sie in der
Sprache des Volks reden und an dessen gewohnter Sprach- und Schreibweise
festhalten.

Beide Parteien vermeiden es der mächtigen polnischen Gegner wegen,
offen gegen einander aufzutreten, und obgleich die Kleinrussen in der Stille
von der östreichischen Regierung gegen die praktischen und gefährlichen Swäto¬
jurzen unterstützt werden, ist das äußere Verhältniß ein erträgliches. Die
ländlichen Popen und Schulmeister, welche die Details des Conflicts, nicht
verstehen, gehen mit beiden Richtungen und stehen jedes Mal unter d^em
Einfluß, der zur Zeit und am Ort der stärkere ist. Die Swätojurzen zeigen
im Allgemeinen größere Rührigkeit, laufen aber nicht selten Gefahr, dem
Verständniß des Volks entrückt zu werden, das erst in neuester Zeit für die
importirtre großrussische Literatur, mit der es überschwemmt wird, Verstand,
riß zu gewinnen begonnen hat.


gang der fünfziger Jahre gründete der bekannte Kostomarow ein kleinrussisches
Journal „Oßnowa" welches sich zur Aufgabe machte, die Eigenthümlichkeiten
der kleinrussischen Sprache zu erhalten und auszubilden, eine Literatur dieses
Dialects und ein an die ruhmreichen Erinnerungen der Ukraine anknüpfendes
specifisch-kleinrussisches Bewußtsein zu schaffen. Dieses Bestreben sand anfangs
Anklang und wurde von einer Anzahl talentvoller Volksdichter und Novel¬
listen unterstützt, unter denen namentlich Marko Wowtschek genannt zu werden
verdient. Als die Moskausche Zeitung aber nach Niederschlagung des pol¬
nischen Aufstandes die neue, ausschließlich nationale Aera einleitete und ihre
Treibjagden nach „Separatisten" begann, wurden nicht nur die Finnländer,
Liv-, Est-, Kurländer, Greusier u. s. w. sondern auch die harmlosen Ukraino-
philen (so nannte man die kleinrussische Literatenpartei) als Staatsseinde und
Gegner der Reichseinheit denuncirt auf die Proscriptionsliste gesetzt. — In
Galizien machte der Fanatismus der Moskaner Publicisten, die dem Klein«
russenthum ohne allen Grund den Krieg erklärt hatten, einen peinlichen Ein¬
druck und die Journalisten des Slowo hatten alle Mühe denselben zu ver¬
wischen. Sie konnten aber nicht verhindern, daß ein Theil der galizischen
Parteiführer fortan eine reservirte Stellung einnahm und offen erklärte, bei
aller Einsicht in die Nothwendigkeit einer Annäherung an Rußland, auf die
Eigenthümlichkeiten des Vaterlandes nicht ohne Weiteres Verzicht leisten zu
wollen. Diese specifischen Kleinrussen denken sich das Verhältniß ihrer Hei¬
math zu dem Moskaner Grohrussenthum als ein förderatives, während die
Swätojurzen ganz direct auf das Aufgehen in den großrussischen Stamm
und den von diesem geschaffenen Staat losarbeiten. Während die Partei des
Slowo so rasch und überstürzt in das großrussische Lager übergangen ist, daß
die Masse der Nation ihr nicht folgen konnte, üben die Anhänger des Klein-
russenthums auf dieselbe schon darum beträchtlichen Einfluß, weil sie in der
Sprache des Volks reden und an dessen gewohnter Sprach- und Schreibweise
festhalten.

Beide Parteien vermeiden es der mächtigen polnischen Gegner wegen,
offen gegen einander aufzutreten, und obgleich die Kleinrussen in der Stille
von der östreichischen Regierung gegen die praktischen und gefährlichen Swäto¬
jurzen unterstützt werden, ist das äußere Verhältniß ein erträgliches. Die
ländlichen Popen und Schulmeister, welche die Details des Conflicts, nicht
verstehen, gehen mit beiden Richtungen und stehen jedes Mal unter d^em
Einfluß, der zur Zeit und am Ort der stärkere ist. Die Swätojurzen zeigen
im Allgemeinen größere Rührigkeit, laufen aber nicht selten Gefahr, dem
Verständniß des Volks entrückt zu werden, das erst in neuester Zeit für die
importirtre großrussische Literatur, mit der es überschwemmt wird, Verstand,
riß zu gewinnen begonnen hat.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/156>, abgerufen am 25.08.2024.