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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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Dieser Umstand war für den ferneren Verlauf der Dinge entscheidend.
Dieselben Bauern, welche noch kurz zuvor außer Stande gewesen waren, den
Enthusiasmus ihrer gebildeten Führer für Großrußland ganz zu verstehen
und deren Eifer für Adoption der großrussischen Schriftsprache zu theilen,
sahen jetzt, daß die Sache eine sehr praktische Seite habe und standen nicht
an, dieser größere Aufmerksamkeit als bisher zu Theil werden zu lassen. Die
großrussische Agitation machte immer glänzendere Geschäfte und ihre Trägerin,
die Partei der Swätojurzen*) nahm an Ausbreitung und Ansehen zu. Das
Organ dieser Partei, die zwei Mal wöchentlich zu Lemberg erscheinende, von
Bogdan Dedizki u. M. Ploschtschanski redigirte Zeitung "Slowo" hat voll¬
ständig das Aussehen eines russischen Journals. Die Lettern sind von den
in Moskau und Petersburg üblichen kaum zu unterscheiden und haben die
altslavonischen Schriftzeichen vollständig verdrängt, die Sprache schließt sich
der großrussischen genau an und nur das Feuilleton enthält zuweilen in der
eigentlichen Landesmundart geschriebene Artikel; der politische Theil bringt
neben polemischen Auslassungen gegen polnische und deutsch-östreichische Zei¬
tungen hauptsächlich Nachrichten aus Rußland und macht die Nussifications-
maaßregeln in Litthauen und Polen zu den Hauptgegenständen seiner Be¬
trachtung, nicht selten mit deutlicher Anspielung darauf, daß das jenseit der
Grenze gegebene Beispiel dereinst in Galizien nachgeahmt werden müsse. In
kirchlicher Beziehung wird das griechische Element in der unirten Kirche be-
sonders betont und auf Ausmärzung aller römisch-katholischen Einflüsse hin¬
gearbeitet; die unirte Geistlichkeit, welche nicht nur als nationale Lehrerin
in Betracht kommt, sondern das Hauptmaterial für die russischen Reichstags¬
und Landtagsmitglieder abgibt, ist von Alters her entschiedene Gegnerin des
Katholicismus und vergißt es nicht, daß der Druck, der auf ihr Volk Jahr¬
hunderte lang ausgeübt wurde, nicht nur auf nationalen Vorurtheilen be¬
ruhte, sondern den propagandistischen Eifer der Jesuiten zum Haupthebel hatte.

Die Partei der großrussisch gesinnten Swätojurzen ist trotz des Ein¬
flusses, den sie übt, in den niederen Classen aber noch nicht so einflußreich,
wie bei der russisch-galizischen Intelligenz. Die älteren Popen und Schul¬
meister bekennen zum Theil noch ein specifisch-kleinrussisches Glaubensbekenntniß,
halten an den Eigenthümlichkeiten ihrer Sprache und Literatur fest und
wünschen nicht sowohl mit den Großrussen, als mit ihren kleinrussischen
Brüdern vereinigt zu werden. Während die Swätojurzen direct nach Peters-
burg und Moskau blicken, sehen die Anhänger des Kleinrussenthums Kiew
für ihre eigentliche Hauptstadt an und erwarten von dorther das Heil. Be¬
kanntlich gibt es auch in Rußland selbst eine kleinrussische Partei; am Aus-



Das Wort Swätojurzen kommt von Swätoi Juri (heiliger Georg) her und bezieht
fich auf das russische Reichswappen, in welchem der Drachentödter abgebildet ist.
19"

Dieser Umstand war für den ferneren Verlauf der Dinge entscheidend.
Dieselben Bauern, welche noch kurz zuvor außer Stande gewesen waren, den
Enthusiasmus ihrer gebildeten Führer für Großrußland ganz zu verstehen
und deren Eifer für Adoption der großrussischen Schriftsprache zu theilen,
sahen jetzt, daß die Sache eine sehr praktische Seite habe und standen nicht
an, dieser größere Aufmerksamkeit als bisher zu Theil werden zu lassen. Die
großrussische Agitation machte immer glänzendere Geschäfte und ihre Trägerin,
die Partei der Swätojurzen*) nahm an Ausbreitung und Ansehen zu. Das
Organ dieser Partei, die zwei Mal wöchentlich zu Lemberg erscheinende, von
Bogdan Dedizki u. M. Ploschtschanski redigirte Zeitung „Slowo" hat voll¬
ständig das Aussehen eines russischen Journals. Die Lettern sind von den
in Moskau und Petersburg üblichen kaum zu unterscheiden und haben die
altslavonischen Schriftzeichen vollständig verdrängt, die Sprache schließt sich
der großrussischen genau an und nur das Feuilleton enthält zuweilen in der
eigentlichen Landesmundart geschriebene Artikel; der politische Theil bringt
neben polemischen Auslassungen gegen polnische und deutsch-östreichische Zei¬
tungen hauptsächlich Nachrichten aus Rußland und macht die Nussifications-
maaßregeln in Litthauen und Polen zu den Hauptgegenständen seiner Be¬
trachtung, nicht selten mit deutlicher Anspielung darauf, daß das jenseit der
Grenze gegebene Beispiel dereinst in Galizien nachgeahmt werden müsse. In
kirchlicher Beziehung wird das griechische Element in der unirten Kirche be-
sonders betont und auf Ausmärzung aller römisch-katholischen Einflüsse hin¬
gearbeitet; die unirte Geistlichkeit, welche nicht nur als nationale Lehrerin
in Betracht kommt, sondern das Hauptmaterial für die russischen Reichstags¬
und Landtagsmitglieder abgibt, ist von Alters her entschiedene Gegnerin des
Katholicismus und vergißt es nicht, daß der Druck, der auf ihr Volk Jahr¬
hunderte lang ausgeübt wurde, nicht nur auf nationalen Vorurtheilen be¬
ruhte, sondern den propagandistischen Eifer der Jesuiten zum Haupthebel hatte.

Die Partei der großrussisch gesinnten Swätojurzen ist trotz des Ein¬
flusses, den sie übt, in den niederen Classen aber noch nicht so einflußreich,
wie bei der russisch-galizischen Intelligenz. Die älteren Popen und Schul¬
meister bekennen zum Theil noch ein specifisch-kleinrussisches Glaubensbekenntniß,
halten an den Eigenthümlichkeiten ihrer Sprache und Literatur fest und
wünschen nicht sowohl mit den Großrussen, als mit ihren kleinrussischen
Brüdern vereinigt zu werden. Während die Swätojurzen direct nach Peters-
burg und Moskau blicken, sehen die Anhänger des Kleinrussenthums Kiew
für ihre eigentliche Hauptstadt an und erwarten von dorther das Heil. Be¬
kanntlich gibt es auch in Rußland selbst eine kleinrussische Partei; am Aus-



Das Wort Swätojurzen kommt von Swätoi Juri (heiliger Georg) her und bezieht
fich auf das russische Reichswappen, in welchem der Drachentödter abgebildet ist.
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[0155] Dieser Umstand war für den ferneren Verlauf der Dinge entscheidend. Dieselben Bauern, welche noch kurz zuvor außer Stande gewesen waren, den Enthusiasmus ihrer gebildeten Führer für Großrußland ganz zu verstehen und deren Eifer für Adoption der großrussischen Schriftsprache zu theilen, sahen jetzt, daß die Sache eine sehr praktische Seite habe und standen nicht an, dieser größere Aufmerksamkeit als bisher zu Theil werden zu lassen. Die großrussische Agitation machte immer glänzendere Geschäfte und ihre Trägerin, die Partei der Swätojurzen*) nahm an Ausbreitung und Ansehen zu. Das Organ dieser Partei, die zwei Mal wöchentlich zu Lemberg erscheinende, von Bogdan Dedizki u. M. Ploschtschanski redigirte Zeitung „Slowo" hat voll¬ ständig das Aussehen eines russischen Journals. Die Lettern sind von den in Moskau und Petersburg üblichen kaum zu unterscheiden und haben die altslavonischen Schriftzeichen vollständig verdrängt, die Sprache schließt sich der großrussischen genau an und nur das Feuilleton enthält zuweilen in der eigentlichen Landesmundart geschriebene Artikel; der politische Theil bringt neben polemischen Auslassungen gegen polnische und deutsch-östreichische Zei¬ tungen hauptsächlich Nachrichten aus Rußland und macht die Nussifications- maaßregeln in Litthauen und Polen zu den Hauptgegenständen seiner Be¬ trachtung, nicht selten mit deutlicher Anspielung darauf, daß das jenseit der Grenze gegebene Beispiel dereinst in Galizien nachgeahmt werden müsse. In kirchlicher Beziehung wird das griechische Element in der unirten Kirche be- sonders betont und auf Ausmärzung aller römisch-katholischen Einflüsse hin¬ gearbeitet; die unirte Geistlichkeit, welche nicht nur als nationale Lehrerin in Betracht kommt, sondern das Hauptmaterial für die russischen Reichstags¬ und Landtagsmitglieder abgibt, ist von Alters her entschiedene Gegnerin des Katholicismus und vergißt es nicht, daß der Druck, der auf ihr Volk Jahr¬ hunderte lang ausgeübt wurde, nicht nur auf nationalen Vorurtheilen be¬ ruhte, sondern den propagandistischen Eifer der Jesuiten zum Haupthebel hatte. Die Partei der großrussisch gesinnten Swätojurzen ist trotz des Ein¬ flusses, den sie übt, in den niederen Classen aber noch nicht so einflußreich, wie bei der russisch-galizischen Intelligenz. Die älteren Popen und Schul¬ meister bekennen zum Theil noch ein specifisch-kleinrussisches Glaubensbekenntniß, halten an den Eigenthümlichkeiten ihrer Sprache und Literatur fest und wünschen nicht sowohl mit den Großrussen, als mit ihren kleinrussischen Brüdern vereinigt zu werden. Während die Swätojurzen direct nach Peters- burg und Moskau blicken, sehen die Anhänger des Kleinrussenthums Kiew für ihre eigentliche Hauptstadt an und erwarten von dorther das Heil. Be¬ kanntlich gibt es auch in Rußland selbst eine kleinrussische Partei; am Aus- Das Wort Swätojurzen kommt von Swätoi Juri (heiliger Georg) her und bezieht fich auf das russische Reichswappen, in welchem der Drachentödter abgebildet ist. 19"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/155>, abgerufen am 25.08.2024.