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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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Alle diese Vorschläge des Herrn T. sind, wie man sieht, nicht unprak¬
tisch, nicht geradezu unausführbar. Bei der gegenwärtigen Organisation der
schweizerischen Verfassungen wäre, formell genommen, nichts leichter als die
sofortige Revision derselben im Sinne jener Ideen. Was an diesen aus¬
zusetzen, ist leider nur, daß sie bei der obwaltenden Geistesströmung in den
Massen und ihren Führern weder Verständniß noch Anklang finden werden.
Dies ist aber an sich kein Beweis gegen die Richtigkeit. Achtung verdienen
diese Ausführungen nichtsdestoweniger.

Tallichet kommt am Schlüsse seiner Schrift auch auf die kirchliche
Frage zu sprechen. Zwischen den von ihm geprüften Vorschlägen des
Herrn Dubs auf eine Wiederherstellung der zerfallenen Kirche durch den
Staat auf demokratischer Grundlage und des Herrn Hilty auf vollständige
Trennung beider entscheidet er sich für letztere. Die wesentlichste Freiheit,
welche die Schweiz noch zu erringen hat, ist nach ihm diejenige, welche das
religiöse Leben von der Vormundschaft des Staates emancipirt; denn diese
letztere ist die Ursache des so verbreiteten Mangels an Muth, ein freies Wort
offen auszusprechen, der so allgemein gewordenen Weichlichkeit und Energie"
losigkeit im öffentlichen wie im Privatleben. Napoleon I. beschützte und
bezahlte nicht vergebens alle Culte. Eine Religion, die sich nicht selbst
aufrecht zu halten vermag, ist nicht werth, auf künstliche Weise ge¬
schützt zu werden. Sollte die Freiheit allein nur auf dem Gebiete der Re¬
ligion keine Lebenskraft entfalten? In allen Ländern, welche die Freiheit be¬
sitzen oder anstreben, beginnt man der Bedeutung derselben auch für die
Religion sich bewußt zu werden. England schafft die irische Staatskirche ab
und bald wird es den Staatskirchen von Schottland und England nicht
anders ergehen. In Deutschland wird die Frage stark discutirt, in Italien,
selbst in Frankreich verlangen Viele die freie Kirche im freien Staate. In
der Schweiz taucht die Idee überall auf: in Genf ist ohne Zweifel die Mehr¬
heit für Trennung, in Neuenburg sind ihr die Geistlichkeit und eine große
Zahl von Laien gewogen und die Radicalen hatten dieselbe in ihr Nevisions-
programm aufgenommen. Auch in Bern wird sie von den Radicalen ge¬
fordert und in der ganzen nördlichen und östlichen Schweiz, in Zürich,
Aargau, Thurgau, Se. Gallen beschäftigt diese Frage die Geister und ge¬
winnt sie immer mehr für sich. Auch in dieser großen Angelegenheit der
Rückkehr des Protestantismus zu seinem ursprünglichen Geiste der Freiheit
und Einigung wäre es die Aufgabe der Schweiz, den Weg zu zeigen und
die Bahn zu öffnen.




Gre"zi>oder III. 18VA,13

Alle diese Vorschläge des Herrn T. sind, wie man sieht, nicht unprak¬
tisch, nicht geradezu unausführbar. Bei der gegenwärtigen Organisation der
schweizerischen Verfassungen wäre, formell genommen, nichts leichter als die
sofortige Revision derselben im Sinne jener Ideen. Was an diesen aus¬
zusetzen, ist leider nur, daß sie bei der obwaltenden Geistesströmung in den
Massen und ihren Führern weder Verständniß noch Anklang finden werden.
Dies ist aber an sich kein Beweis gegen die Richtigkeit. Achtung verdienen
diese Ausführungen nichtsdestoweniger.

Tallichet kommt am Schlüsse seiner Schrift auch auf die kirchliche
Frage zu sprechen. Zwischen den von ihm geprüften Vorschlägen des
Herrn Dubs auf eine Wiederherstellung der zerfallenen Kirche durch den
Staat auf demokratischer Grundlage und des Herrn Hilty auf vollständige
Trennung beider entscheidet er sich für letztere. Die wesentlichste Freiheit,
welche die Schweiz noch zu erringen hat, ist nach ihm diejenige, welche das
religiöse Leben von der Vormundschaft des Staates emancipirt; denn diese
letztere ist die Ursache des so verbreiteten Mangels an Muth, ein freies Wort
offen auszusprechen, der so allgemein gewordenen Weichlichkeit und Energie«
losigkeit im öffentlichen wie im Privatleben. Napoleon I. beschützte und
bezahlte nicht vergebens alle Culte. Eine Religion, die sich nicht selbst
aufrecht zu halten vermag, ist nicht werth, auf künstliche Weise ge¬
schützt zu werden. Sollte die Freiheit allein nur auf dem Gebiete der Re¬
ligion keine Lebenskraft entfalten? In allen Ländern, welche die Freiheit be¬
sitzen oder anstreben, beginnt man der Bedeutung derselben auch für die
Religion sich bewußt zu werden. England schafft die irische Staatskirche ab
und bald wird es den Staatskirchen von Schottland und England nicht
anders ergehen. In Deutschland wird die Frage stark discutirt, in Italien,
selbst in Frankreich verlangen Viele die freie Kirche im freien Staate. In
der Schweiz taucht die Idee überall auf: in Genf ist ohne Zweifel die Mehr¬
heit für Trennung, in Neuenburg sind ihr die Geistlichkeit und eine große
Zahl von Laien gewogen und die Radicalen hatten dieselbe in ihr Nevisions-
programm aufgenommen. Auch in Bern wird sie von den Radicalen ge¬
fordert und in der ganzen nördlichen und östlichen Schweiz, in Zürich,
Aargau, Thurgau, Se. Gallen beschäftigt diese Frage die Geister und ge¬
winnt sie immer mehr für sich. Auch in dieser großen Angelegenheit der
Rückkehr des Protestantismus zu seinem ursprünglichen Geiste der Freiheit
und Einigung wäre es die Aufgabe der Schweiz, den Weg zu zeigen und
die Bahn zu öffnen.




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[0145] Alle diese Vorschläge des Herrn T. sind, wie man sieht, nicht unprak¬ tisch, nicht geradezu unausführbar. Bei der gegenwärtigen Organisation der schweizerischen Verfassungen wäre, formell genommen, nichts leichter als die sofortige Revision derselben im Sinne jener Ideen. Was an diesen aus¬ zusetzen, ist leider nur, daß sie bei der obwaltenden Geistesströmung in den Massen und ihren Führern weder Verständniß noch Anklang finden werden. Dies ist aber an sich kein Beweis gegen die Richtigkeit. Achtung verdienen diese Ausführungen nichtsdestoweniger. Tallichet kommt am Schlüsse seiner Schrift auch auf die kirchliche Frage zu sprechen. Zwischen den von ihm geprüften Vorschlägen des Herrn Dubs auf eine Wiederherstellung der zerfallenen Kirche durch den Staat auf demokratischer Grundlage und des Herrn Hilty auf vollständige Trennung beider entscheidet er sich für letztere. Die wesentlichste Freiheit, welche die Schweiz noch zu erringen hat, ist nach ihm diejenige, welche das religiöse Leben von der Vormundschaft des Staates emancipirt; denn diese letztere ist die Ursache des so verbreiteten Mangels an Muth, ein freies Wort offen auszusprechen, der so allgemein gewordenen Weichlichkeit und Energie« losigkeit im öffentlichen wie im Privatleben. Napoleon I. beschützte und bezahlte nicht vergebens alle Culte. Eine Religion, die sich nicht selbst aufrecht zu halten vermag, ist nicht werth, auf künstliche Weise ge¬ schützt zu werden. Sollte die Freiheit allein nur auf dem Gebiete der Re¬ ligion keine Lebenskraft entfalten? In allen Ländern, welche die Freiheit be¬ sitzen oder anstreben, beginnt man der Bedeutung derselben auch für die Religion sich bewußt zu werden. England schafft die irische Staatskirche ab und bald wird es den Staatskirchen von Schottland und England nicht anders ergehen. In Deutschland wird die Frage stark discutirt, in Italien, selbst in Frankreich verlangen Viele die freie Kirche im freien Staate. In der Schweiz taucht die Idee überall auf: in Genf ist ohne Zweifel die Mehr¬ heit für Trennung, in Neuenburg sind ihr die Geistlichkeit und eine große Zahl von Laien gewogen und die Radicalen hatten dieselbe in ihr Nevisions- programm aufgenommen. Auch in Bern wird sie von den Radicalen ge¬ fordert und in der ganzen nördlichen und östlichen Schweiz, in Zürich, Aargau, Thurgau, Se. Gallen beschäftigt diese Frage die Geister und ge¬ winnt sie immer mehr für sich. Auch in dieser großen Angelegenheit der Rückkehr des Protestantismus zu seinem ursprünglichen Geiste der Freiheit und Einigung wäre es die Aufgabe der Schweiz, den Weg zu zeigen und die Bahn zu öffnen. Gre»zi>oder III. 18VA,13

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/145>, abgerufen am 22.07.2024.