Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

sie gegenwärtig in England Brauch ist. Beim Rücktritt des Mini¬
steriums ist der Führer der Kammermehrheit das natürliche Haupt der
neuen Regierung. Dieses wählt seine College" unter Berücksichtigung der
Wünsche der Kammer; es trägt die Hauptverantwortlichkeit und damit ge¬
bührt ihm auch das Recht, der Politik des Ministeriums die Richtung zu
geben. Im Uebrigen sind die anderen Mitglieder ihm gleichberechtigt. Sein
Verhältniß zu diesen ist dem des Ministeriums zur Kammermehrheit analog.
So entsteht eine einheitliche starke Regierung, die wie ein Mann vorgeht.
Ein solches System hat nichts unvereinbares mit der Republik, nicht einmal
mit der jetzt in den Großen Räthen der Schweiz üblichen Wahl der Regie¬
rung mittelst Scrutiniums. Es braucht nur richtig verstanden zu werden.

Allein ohne eine gründliche Reform des Wahlsystems könnte das
vorgeschlagene constitutionelle System nur sehr langsame und mangelhafte
Früchte bringen. Denn damit die Vertretung eine wahre sei, müssen alle
wichtigeren Gruppen der Bevölkerung, welche gemeinschaftliche Anschauungen
und Interessen haben, ihre Stimme in den Räthen der Nation geltend
machen können. Es müßten also auch die Minderheiten nach Verhältniß
ihrer Zahl und Bedeutung vertreten sein. Wo keine ächte Opposition,
da ist in wirksamer Weise nur eine Meinung vertreten und diese richtet sich,
wie sich dies gegenwärtig zeigt, am Ende selbst zu Grunde. Das Volk ruft
schließlich nach Reformen, es möchte die ihm nicht mehr adäquate Kammer
beschränken und verfällt auf Referendum, Veto, Initiative und dergleichen,
als ob man eine Obrigkeit dadurch verbesserte, daß man sie zur Ohnmacht
verurtheilt.

Gegen die persönliche Vertretung hat man eingewandt, sie zersplittere
die nationale. Das heißt mit anderen Worten, man wolle keinen indivi-
dualisirten Volkswillen. Aber besteht das Volk nicht aus Bürgern, deren
jeder seine eigene Individualität hat? Ist es weniger das Volk, wenn es
ins Unendliche getheilt ist in Bezug auf die Einzelheiten, aber Eins und ge¬
einigt in Bezug auf die großen Fragen der Gemeinschaft? Das Volk ist
nicht, wie so mancher Radicale und Demokrat meint, ein Wesen ohne Fleisch
und Blut, dessen einzig wahrer Interpret sie selbst sind. Es ist eine Ge¬
sammtheit von lebendigen Wesen, deren jedes seine eigenen Begehren, Ueber¬
zeugungen, Interessen hat, die sich gruppenweise einander nähern und von
einander entfernen. Je besser diese Gruppen vertreten sind -- nicht durch
solche Männer, bei denen der besondere Gruppencharakter verwischt, sondern
bei denen er möglichst ausgeprägt ist -- ein desto getreueres Abbild des
Volkes wird die Kammer darstellen. So wird sie die Wünsche der beson¬
deren Volksgruppen ausdrücken, während die Regierung die Aufgabe hat,
die verschiedenen Anschauungen und Interessen in Uebereinstimmung und das


sie gegenwärtig in England Brauch ist. Beim Rücktritt des Mini¬
steriums ist der Führer der Kammermehrheit das natürliche Haupt der
neuen Regierung. Dieses wählt seine College« unter Berücksichtigung der
Wünsche der Kammer; es trägt die Hauptverantwortlichkeit und damit ge¬
bührt ihm auch das Recht, der Politik des Ministeriums die Richtung zu
geben. Im Uebrigen sind die anderen Mitglieder ihm gleichberechtigt. Sein
Verhältniß zu diesen ist dem des Ministeriums zur Kammermehrheit analog.
So entsteht eine einheitliche starke Regierung, die wie ein Mann vorgeht.
Ein solches System hat nichts unvereinbares mit der Republik, nicht einmal
mit der jetzt in den Großen Räthen der Schweiz üblichen Wahl der Regie¬
rung mittelst Scrutiniums. Es braucht nur richtig verstanden zu werden.

Allein ohne eine gründliche Reform des Wahlsystems könnte das
vorgeschlagene constitutionelle System nur sehr langsame und mangelhafte
Früchte bringen. Denn damit die Vertretung eine wahre sei, müssen alle
wichtigeren Gruppen der Bevölkerung, welche gemeinschaftliche Anschauungen
und Interessen haben, ihre Stimme in den Räthen der Nation geltend
machen können. Es müßten also auch die Minderheiten nach Verhältniß
ihrer Zahl und Bedeutung vertreten sein. Wo keine ächte Opposition,
da ist in wirksamer Weise nur eine Meinung vertreten und diese richtet sich,
wie sich dies gegenwärtig zeigt, am Ende selbst zu Grunde. Das Volk ruft
schließlich nach Reformen, es möchte die ihm nicht mehr adäquate Kammer
beschränken und verfällt auf Referendum, Veto, Initiative und dergleichen,
als ob man eine Obrigkeit dadurch verbesserte, daß man sie zur Ohnmacht
verurtheilt.

Gegen die persönliche Vertretung hat man eingewandt, sie zersplittere
die nationale. Das heißt mit anderen Worten, man wolle keinen indivi-
dualisirten Volkswillen. Aber besteht das Volk nicht aus Bürgern, deren
jeder seine eigene Individualität hat? Ist es weniger das Volk, wenn es
ins Unendliche getheilt ist in Bezug auf die Einzelheiten, aber Eins und ge¬
einigt in Bezug auf die großen Fragen der Gemeinschaft? Das Volk ist
nicht, wie so mancher Radicale und Demokrat meint, ein Wesen ohne Fleisch
und Blut, dessen einzig wahrer Interpret sie selbst sind. Es ist eine Ge¬
sammtheit von lebendigen Wesen, deren jedes seine eigenen Begehren, Ueber¬
zeugungen, Interessen hat, die sich gruppenweise einander nähern und von
einander entfernen. Je besser diese Gruppen vertreten sind — nicht durch
solche Männer, bei denen der besondere Gruppencharakter verwischt, sondern
bei denen er möglichst ausgeprägt ist — ein desto getreueres Abbild des
Volkes wird die Kammer darstellen. So wird sie die Wünsche der beson¬
deren Volksgruppen ausdrücken, während die Regierung die Aufgabe hat,
die verschiedenen Anschauungen und Interessen in Uebereinstimmung und das


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0143" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/121364"/>
            <p xml:id="ID_457" prev="#ID_456"> sie gegenwärtig in England Brauch ist. Beim Rücktritt des Mini¬<lb/>
steriums ist der Führer der Kammermehrheit das natürliche Haupt der<lb/>
neuen Regierung. Dieses wählt seine College« unter Berücksichtigung der<lb/>
Wünsche der Kammer; es trägt die Hauptverantwortlichkeit und damit ge¬<lb/>
bührt ihm auch das Recht, der Politik des Ministeriums die Richtung zu<lb/>
geben. Im Uebrigen sind die anderen Mitglieder ihm gleichberechtigt. Sein<lb/>
Verhältniß zu diesen ist dem des Ministeriums zur Kammermehrheit analog.<lb/>
So entsteht eine einheitliche starke Regierung, die wie ein Mann vorgeht.<lb/>
Ein solches System hat nichts unvereinbares mit der Republik, nicht einmal<lb/>
mit der jetzt in den Großen Räthen der Schweiz üblichen Wahl der Regie¬<lb/>
rung mittelst Scrutiniums.  Es braucht nur richtig verstanden zu werden.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_458"> Allein ohne eine gründliche Reform des Wahlsystems könnte das<lb/>
vorgeschlagene constitutionelle System nur sehr langsame und mangelhafte<lb/>
Früchte bringen. Denn damit die Vertretung eine wahre sei, müssen alle<lb/>
wichtigeren Gruppen der Bevölkerung, welche gemeinschaftliche Anschauungen<lb/>
und Interessen haben, ihre Stimme in den Räthen der Nation geltend<lb/>
machen können. Es müßten also auch die Minderheiten nach Verhältniß<lb/>
ihrer Zahl und Bedeutung vertreten sein. Wo keine ächte Opposition,<lb/>
da ist in wirksamer Weise nur eine Meinung vertreten und diese richtet sich,<lb/>
wie sich dies gegenwärtig zeigt, am Ende selbst zu Grunde. Das Volk ruft<lb/>
schließlich nach Reformen, es möchte die ihm nicht mehr adäquate Kammer<lb/>
beschränken und verfällt auf Referendum, Veto, Initiative und dergleichen,<lb/>
als ob man eine Obrigkeit dadurch verbesserte, daß man sie zur Ohnmacht<lb/>
verurtheilt.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_459" next="#ID_460"> Gegen die persönliche Vertretung hat man eingewandt, sie zersplittere<lb/>
die nationale. Das heißt mit anderen Worten, man wolle keinen indivi-<lb/>
dualisirten Volkswillen. Aber besteht das Volk nicht aus Bürgern, deren<lb/>
jeder seine eigene Individualität hat? Ist es weniger das Volk, wenn es<lb/>
ins Unendliche getheilt ist in Bezug auf die Einzelheiten, aber Eins und ge¬<lb/>
einigt in Bezug auf die großen Fragen der Gemeinschaft? Das Volk ist<lb/>
nicht, wie so mancher Radicale und Demokrat meint, ein Wesen ohne Fleisch<lb/>
und Blut, dessen einzig wahrer Interpret sie selbst sind. Es ist eine Ge¬<lb/>
sammtheit von lebendigen Wesen, deren jedes seine eigenen Begehren, Ueber¬<lb/>
zeugungen, Interessen hat, die sich gruppenweise einander nähern und von<lb/>
einander entfernen. Je besser diese Gruppen vertreten sind &#x2014; nicht durch<lb/>
solche Männer, bei denen der besondere Gruppencharakter verwischt, sondern<lb/>
bei denen er möglichst ausgeprägt ist &#x2014; ein desto getreueres Abbild des<lb/>
Volkes wird die Kammer darstellen. So wird sie die Wünsche der beson¬<lb/>
deren Volksgruppen ausdrücken, während die Regierung die Aufgabe hat,<lb/>
die verschiedenen Anschauungen und Interessen in Uebereinstimmung und das</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0143] sie gegenwärtig in England Brauch ist. Beim Rücktritt des Mini¬ steriums ist der Führer der Kammermehrheit das natürliche Haupt der neuen Regierung. Dieses wählt seine College« unter Berücksichtigung der Wünsche der Kammer; es trägt die Hauptverantwortlichkeit und damit ge¬ bührt ihm auch das Recht, der Politik des Ministeriums die Richtung zu geben. Im Uebrigen sind die anderen Mitglieder ihm gleichberechtigt. Sein Verhältniß zu diesen ist dem des Ministeriums zur Kammermehrheit analog. So entsteht eine einheitliche starke Regierung, die wie ein Mann vorgeht. Ein solches System hat nichts unvereinbares mit der Republik, nicht einmal mit der jetzt in den Großen Räthen der Schweiz üblichen Wahl der Regie¬ rung mittelst Scrutiniums. Es braucht nur richtig verstanden zu werden. Allein ohne eine gründliche Reform des Wahlsystems könnte das vorgeschlagene constitutionelle System nur sehr langsame und mangelhafte Früchte bringen. Denn damit die Vertretung eine wahre sei, müssen alle wichtigeren Gruppen der Bevölkerung, welche gemeinschaftliche Anschauungen und Interessen haben, ihre Stimme in den Räthen der Nation geltend machen können. Es müßten also auch die Minderheiten nach Verhältniß ihrer Zahl und Bedeutung vertreten sein. Wo keine ächte Opposition, da ist in wirksamer Weise nur eine Meinung vertreten und diese richtet sich, wie sich dies gegenwärtig zeigt, am Ende selbst zu Grunde. Das Volk ruft schließlich nach Reformen, es möchte die ihm nicht mehr adäquate Kammer beschränken und verfällt auf Referendum, Veto, Initiative und dergleichen, als ob man eine Obrigkeit dadurch verbesserte, daß man sie zur Ohnmacht verurtheilt. Gegen die persönliche Vertretung hat man eingewandt, sie zersplittere die nationale. Das heißt mit anderen Worten, man wolle keinen indivi- dualisirten Volkswillen. Aber besteht das Volk nicht aus Bürgern, deren jeder seine eigene Individualität hat? Ist es weniger das Volk, wenn es ins Unendliche getheilt ist in Bezug auf die Einzelheiten, aber Eins und ge¬ einigt in Bezug auf die großen Fragen der Gemeinschaft? Das Volk ist nicht, wie so mancher Radicale und Demokrat meint, ein Wesen ohne Fleisch und Blut, dessen einzig wahrer Interpret sie selbst sind. Es ist eine Ge¬ sammtheit von lebendigen Wesen, deren jedes seine eigenen Begehren, Ueber¬ zeugungen, Interessen hat, die sich gruppenweise einander nähern und von einander entfernen. Je besser diese Gruppen vertreten sind — nicht durch solche Männer, bei denen der besondere Gruppencharakter verwischt, sondern bei denen er möglichst ausgeprägt ist — ein desto getreueres Abbild des Volkes wird die Kammer darstellen. So wird sie die Wünsche der beson¬ deren Volksgruppen ausdrücken, während die Regierung die Aufgabe hat, die verschiedenen Anschauungen und Interessen in Uebereinstimmung und das

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/143
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/143>, abgerufen am 24.08.2024.