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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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Das "allgemeine Stimmrecht" wird immer mehr zur Grundlage des öffent¬
lichen Lebens in Europa: die Regierungen stützen sich immer mehr auf
die Massen und suchen hierin das Mittel, die gebildeten Classen hinter diese
zurückzuschieben. In der Schweiz hat der Radikalismus wenigstens Auswege
offen gelassen; das Volk kann die Macht wieder an sich nehmen, kann seine
Organisation ändern. An einem solchen Punkte der Entwickelung befinden
wir uns gegenwärtig, Das Volk hat angefangen, sich seiner Bedürfnisse be¬
wußt zu werden und nach neuen Formen zu deren Befriedigung zu suchen.
Fast alle Vorschläge, die bisher in diesem Sinne gemacht wurden, bezwecken,
das Volk wieder in den Besitz der von ihm delegirten Gewalt zurückzubringen,
und ihm die Ausübung derselben so direct wie möglich in die Hand zu
geben. In dieser Richtung fordert man Referendum, Initiative, Veto, directe
Wahl der Regierung durch das Volk, Vertretung der Minderheiten, Plate-
formsystem, Trennung von Staat und Kirche u. a. in.

Das Problem der heutigen Schweizer Demokratie heißt: wie soll dem
Volke die Macht gegeben werden, seinen Willen zu jeder Zeit zur Geltung
zu bringen? Unter den verschiedenen Vorschlägen, die zu diesem Ende
hervorgetreten sind, hat bisher keiner mehr von sich reden gemacht, als der¬
jenige der Einführung des Referendums, d. i. der Volksabstimmung über
die einzelnen Gesetze. Hören wir nun einige Stimmen, die sich zu Gunsten
dieser Institution aussprechen. Herr Hilty aus Bündten, wo das Referen¬
dum schon seit alter Zeit zu Recht besteht, ist einer seiner beredtesten Lob¬
redner. Er führt als Vorzüge desselben Folgendes an: 1) Es gibt eine
sichere und ruhige Constituirung der wahren Volksmehrheit, aus welcher dann
eine ebenso große Beruhigung des ganzen Volkes selbst, basirt auf demokrati¬
schen Principien, hervorgeht; 2) es findet bei demselben keinerlei Art von
Volksbeherrschung statt; 3) es ist das beste Mittel, alle Bürger mit den
öffentlichen Angelegenheiten bekannt zu machen und sie für dieselben zu
interessiren. Mag diese Bekanntschaft auch noch so oberflächlich sein, sie ist
doch immer noch eine größere, also ohne Referendum. 4) Das Referendum
ist ein natürlicher Factor im öffentlichen Leben; es vertritt gewissermaßen
die eine der beiden Kammern und in dieser Art von Zweikammersystem
müssen die gesetzgebenden Großen Räthe einerseits und das Volk andererseits
mit einander übereinstimmen, damit ein Gesetz rechtsgiltig werde. Zur Be¬
kräftigung weist Herr H. auf die drei Cantone hin, in welchen das Referen¬
dum eingeführt war und noch ist, auf Graubündten, Wallis und Baselland.

Von den Einwürfen treffen die des Herrn Tallichet zuerst die bezeichne¬
ten Exemplificationen; unter jenen drei Cantonen, meint er, sprechen wenig¬
stens zwei eher gegen als für das Referendum. Denn in Wallis wurde
dasselbe unter der Zustimmung aller Parteien 1848 wieder abgeschafft und Basel-


Das „allgemeine Stimmrecht" wird immer mehr zur Grundlage des öffent¬
lichen Lebens in Europa: die Regierungen stützen sich immer mehr auf
die Massen und suchen hierin das Mittel, die gebildeten Classen hinter diese
zurückzuschieben. In der Schweiz hat der Radikalismus wenigstens Auswege
offen gelassen; das Volk kann die Macht wieder an sich nehmen, kann seine
Organisation ändern. An einem solchen Punkte der Entwickelung befinden
wir uns gegenwärtig, Das Volk hat angefangen, sich seiner Bedürfnisse be¬
wußt zu werden und nach neuen Formen zu deren Befriedigung zu suchen.
Fast alle Vorschläge, die bisher in diesem Sinne gemacht wurden, bezwecken,
das Volk wieder in den Besitz der von ihm delegirten Gewalt zurückzubringen,
und ihm die Ausübung derselben so direct wie möglich in die Hand zu
geben. In dieser Richtung fordert man Referendum, Initiative, Veto, directe
Wahl der Regierung durch das Volk, Vertretung der Minderheiten, Plate-
formsystem, Trennung von Staat und Kirche u. a. in.

Das Problem der heutigen Schweizer Demokratie heißt: wie soll dem
Volke die Macht gegeben werden, seinen Willen zu jeder Zeit zur Geltung
zu bringen? Unter den verschiedenen Vorschlägen, die zu diesem Ende
hervorgetreten sind, hat bisher keiner mehr von sich reden gemacht, als der¬
jenige der Einführung des Referendums, d. i. der Volksabstimmung über
die einzelnen Gesetze. Hören wir nun einige Stimmen, die sich zu Gunsten
dieser Institution aussprechen. Herr Hilty aus Bündten, wo das Referen¬
dum schon seit alter Zeit zu Recht besteht, ist einer seiner beredtesten Lob¬
redner. Er führt als Vorzüge desselben Folgendes an: 1) Es gibt eine
sichere und ruhige Constituirung der wahren Volksmehrheit, aus welcher dann
eine ebenso große Beruhigung des ganzen Volkes selbst, basirt auf demokrati¬
schen Principien, hervorgeht; 2) es findet bei demselben keinerlei Art von
Volksbeherrschung statt; 3) es ist das beste Mittel, alle Bürger mit den
öffentlichen Angelegenheiten bekannt zu machen und sie für dieselben zu
interessiren. Mag diese Bekanntschaft auch noch so oberflächlich sein, sie ist
doch immer noch eine größere, also ohne Referendum. 4) Das Referendum
ist ein natürlicher Factor im öffentlichen Leben; es vertritt gewissermaßen
die eine der beiden Kammern und in dieser Art von Zweikammersystem
müssen die gesetzgebenden Großen Räthe einerseits und das Volk andererseits
mit einander übereinstimmen, damit ein Gesetz rechtsgiltig werde. Zur Be¬
kräftigung weist Herr H. auf die drei Cantone hin, in welchen das Referen¬
dum eingeführt war und noch ist, auf Graubündten, Wallis und Baselland.

Von den Einwürfen treffen die des Herrn Tallichet zuerst die bezeichne¬
ten Exemplificationen; unter jenen drei Cantonen, meint er, sprechen wenig¬
stens zwei eher gegen als für das Referendum. Denn in Wallis wurde
dasselbe unter der Zustimmung aller Parteien 1848 wieder abgeschafft und Basel-


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[0135] Das „allgemeine Stimmrecht" wird immer mehr zur Grundlage des öffent¬ lichen Lebens in Europa: die Regierungen stützen sich immer mehr auf die Massen und suchen hierin das Mittel, die gebildeten Classen hinter diese zurückzuschieben. In der Schweiz hat der Radikalismus wenigstens Auswege offen gelassen; das Volk kann die Macht wieder an sich nehmen, kann seine Organisation ändern. An einem solchen Punkte der Entwickelung befinden wir uns gegenwärtig, Das Volk hat angefangen, sich seiner Bedürfnisse be¬ wußt zu werden und nach neuen Formen zu deren Befriedigung zu suchen. Fast alle Vorschläge, die bisher in diesem Sinne gemacht wurden, bezwecken, das Volk wieder in den Besitz der von ihm delegirten Gewalt zurückzubringen, und ihm die Ausübung derselben so direct wie möglich in die Hand zu geben. In dieser Richtung fordert man Referendum, Initiative, Veto, directe Wahl der Regierung durch das Volk, Vertretung der Minderheiten, Plate- formsystem, Trennung von Staat und Kirche u. a. in. Das Problem der heutigen Schweizer Demokratie heißt: wie soll dem Volke die Macht gegeben werden, seinen Willen zu jeder Zeit zur Geltung zu bringen? Unter den verschiedenen Vorschlägen, die zu diesem Ende hervorgetreten sind, hat bisher keiner mehr von sich reden gemacht, als der¬ jenige der Einführung des Referendums, d. i. der Volksabstimmung über die einzelnen Gesetze. Hören wir nun einige Stimmen, die sich zu Gunsten dieser Institution aussprechen. Herr Hilty aus Bündten, wo das Referen¬ dum schon seit alter Zeit zu Recht besteht, ist einer seiner beredtesten Lob¬ redner. Er führt als Vorzüge desselben Folgendes an: 1) Es gibt eine sichere und ruhige Constituirung der wahren Volksmehrheit, aus welcher dann eine ebenso große Beruhigung des ganzen Volkes selbst, basirt auf demokrati¬ schen Principien, hervorgeht; 2) es findet bei demselben keinerlei Art von Volksbeherrschung statt; 3) es ist das beste Mittel, alle Bürger mit den öffentlichen Angelegenheiten bekannt zu machen und sie für dieselben zu interessiren. Mag diese Bekanntschaft auch noch so oberflächlich sein, sie ist doch immer noch eine größere, also ohne Referendum. 4) Das Referendum ist ein natürlicher Factor im öffentlichen Leben; es vertritt gewissermaßen die eine der beiden Kammern und in dieser Art von Zweikammersystem müssen die gesetzgebenden Großen Räthe einerseits und das Volk andererseits mit einander übereinstimmen, damit ein Gesetz rechtsgiltig werde. Zur Be¬ kräftigung weist Herr H. auf die drei Cantone hin, in welchen das Referen¬ dum eingeführt war und noch ist, auf Graubündten, Wallis und Baselland. Von den Einwürfen treffen die des Herrn Tallichet zuerst die bezeichne¬ ten Exemplificationen; unter jenen drei Cantonen, meint er, sprechen wenig¬ stens zwei eher gegen als für das Referendum. Denn in Wallis wurde dasselbe unter der Zustimmung aller Parteien 1848 wieder abgeschafft und Basel-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/135>, abgerufen am 25.08.2024.