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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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Nach Herrn Tallicher liegen die letzten Gründe der gegenwärtigen demo¬
kratischen Bestrebungen in der Fortentwickelung des schweizerischen Radikalis¬
mus, der die letzten Consequenzen seines Princips ziehen zu wollen scheine.
Wenn der Verfasser auch zugibt, daß der letztere trotz aller von ihm keines¬
wegs verschmähten demoralisirenden Mittel es verstanden, dem Volke einen
größern Antheil am öffentlichen Leben zu sichern und ihm das Zeugniß aus¬
stellt, daß ohne ihn vielleicht nie eine so gründliche Reform der Bundes¬
verfassung zu Stande gekommen wäre, so kann er doch nicht umhin, ihm
den gewichtigen und sich auf eine ganze Reihe von jetzt noch fortwirkenden
Uebelständen beziehenden Vorwurf zu machen, daß er seine alten besiegten
Gegner, die Dreißiger Liberalen, nach Kräften von den Staatsgeschäften aus¬
geschlossen, sie als Aristokraten und Volksfeinde verschrieen und unmöglich
gemacht habe, während die eigenen Führer die Massen unter dem Scheine
als dienten sie ihnen, während sie in Wirklichkeit sich von ihnen stützen ließen,
nach ihrem Belieben lenkten. Die Liberalen zogen sich in Folge dessen un¬
muthig zurück und waren zuletzt nicht einmal mehr im Stande, eine nennens¬
werte Opposition in den Großen Räthen zu organisiren.

Die Schwächen dieser radicalen Politik sollten sich jedoch allmälig ent¬
hüllen. Sie bestanden darin, daß nicht nur die compacten Massen, auf welche
die starken Regierungen aufgebaut waren, mehr von Leidenschaften, Vor¬
urtheilen und Schlagwörtern als von Principien geleitet wurden, sondern
daß diese Politik in der Regel sich auf eine einzige hervorragende Persön¬
lichkeit stützte und in Schlaffheit und Unthätigkeit verfiel, sobald diese zurück-
trat. Die demokratische Grundlage mochte noch so breit sein, wenn man
nicht die Lücken auszufüllen verstand, die unter den Volksführern entstanden,
so mußte endlich der Augenblick eintreten, wo das System zerfiel und die
Fehler, die man während des Kampfes mit den alten Gegnern übersehen
hatte, sich straften. Allmälig ward es dem Volke bewußt, daß man sich mehr
seiner bedient, als ihm gedient hatte, und wenn es auch nach alter Ge¬
wohnheit noch eine Zeit lang fortfährt, für seine Führer zu stimmen, weil
keine organisirte Opposition mehr da ist, so macht sich doch früher oder später
bei irgend einem unvorhergesehenen Anlaß plötzlich die Unzufriedenheit unter
einem beliebigen Vorwande Luft.

Wir sehen also die Radicalen im Grunde denselben Fehler begehen, dessen
sich früher die Liberalen schuldig gemacht. Diese meinten einst die Massen
zu sich emporheben zu können, ohne ihnen entgegenzukommen; jene ließen sich
zwar zu denselben herab, aber nur, um ihnen zu folgen, statt sie zu sich
emporzuziehen. Sie formirter sich als eng geschlossene Oligarchie, obschon sie
sich auf die Massen stützten. Besonders in kleinen Gemeinwesen ist aber, die
Ausschließung irgend einer Classe der Staatsbürger nicht blos ein Fehler,


Nach Herrn Tallicher liegen die letzten Gründe der gegenwärtigen demo¬
kratischen Bestrebungen in der Fortentwickelung des schweizerischen Radikalis¬
mus, der die letzten Consequenzen seines Princips ziehen zu wollen scheine.
Wenn der Verfasser auch zugibt, daß der letztere trotz aller von ihm keines¬
wegs verschmähten demoralisirenden Mittel es verstanden, dem Volke einen
größern Antheil am öffentlichen Leben zu sichern und ihm das Zeugniß aus¬
stellt, daß ohne ihn vielleicht nie eine so gründliche Reform der Bundes¬
verfassung zu Stande gekommen wäre, so kann er doch nicht umhin, ihm
den gewichtigen und sich auf eine ganze Reihe von jetzt noch fortwirkenden
Uebelständen beziehenden Vorwurf zu machen, daß er seine alten besiegten
Gegner, die Dreißiger Liberalen, nach Kräften von den Staatsgeschäften aus¬
geschlossen, sie als Aristokraten und Volksfeinde verschrieen und unmöglich
gemacht habe, während die eigenen Führer die Massen unter dem Scheine
als dienten sie ihnen, während sie in Wirklichkeit sich von ihnen stützen ließen,
nach ihrem Belieben lenkten. Die Liberalen zogen sich in Folge dessen un¬
muthig zurück und waren zuletzt nicht einmal mehr im Stande, eine nennens¬
werte Opposition in den Großen Räthen zu organisiren.

Die Schwächen dieser radicalen Politik sollten sich jedoch allmälig ent¬
hüllen. Sie bestanden darin, daß nicht nur die compacten Massen, auf welche
die starken Regierungen aufgebaut waren, mehr von Leidenschaften, Vor¬
urtheilen und Schlagwörtern als von Principien geleitet wurden, sondern
daß diese Politik in der Regel sich auf eine einzige hervorragende Persön¬
lichkeit stützte und in Schlaffheit und Unthätigkeit verfiel, sobald diese zurück-
trat. Die demokratische Grundlage mochte noch so breit sein, wenn man
nicht die Lücken auszufüllen verstand, die unter den Volksführern entstanden,
so mußte endlich der Augenblick eintreten, wo das System zerfiel und die
Fehler, die man während des Kampfes mit den alten Gegnern übersehen
hatte, sich straften. Allmälig ward es dem Volke bewußt, daß man sich mehr
seiner bedient, als ihm gedient hatte, und wenn es auch nach alter Ge¬
wohnheit noch eine Zeit lang fortfährt, für seine Führer zu stimmen, weil
keine organisirte Opposition mehr da ist, so macht sich doch früher oder später
bei irgend einem unvorhergesehenen Anlaß plötzlich die Unzufriedenheit unter
einem beliebigen Vorwande Luft.

Wir sehen also die Radicalen im Grunde denselben Fehler begehen, dessen
sich früher die Liberalen schuldig gemacht. Diese meinten einst die Massen
zu sich emporheben zu können, ohne ihnen entgegenzukommen; jene ließen sich
zwar zu denselben herab, aber nur, um ihnen zu folgen, statt sie zu sich
emporzuziehen. Sie formirter sich als eng geschlossene Oligarchie, obschon sie
sich auf die Massen stützten. Besonders in kleinen Gemeinwesen ist aber, die
Ausschließung irgend einer Classe der Staatsbürger nicht blos ein Fehler,


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[0133] Nach Herrn Tallicher liegen die letzten Gründe der gegenwärtigen demo¬ kratischen Bestrebungen in der Fortentwickelung des schweizerischen Radikalis¬ mus, der die letzten Consequenzen seines Princips ziehen zu wollen scheine. Wenn der Verfasser auch zugibt, daß der letztere trotz aller von ihm keines¬ wegs verschmähten demoralisirenden Mittel es verstanden, dem Volke einen größern Antheil am öffentlichen Leben zu sichern und ihm das Zeugniß aus¬ stellt, daß ohne ihn vielleicht nie eine so gründliche Reform der Bundes¬ verfassung zu Stande gekommen wäre, so kann er doch nicht umhin, ihm den gewichtigen und sich auf eine ganze Reihe von jetzt noch fortwirkenden Uebelständen beziehenden Vorwurf zu machen, daß er seine alten besiegten Gegner, die Dreißiger Liberalen, nach Kräften von den Staatsgeschäften aus¬ geschlossen, sie als Aristokraten und Volksfeinde verschrieen und unmöglich gemacht habe, während die eigenen Führer die Massen unter dem Scheine als dienten sie ihnen, während sie in Wirklichkeit sich von ihnen stützen ließen, nach ihrem Belieben lenkten. Die Liberalen zogen sich in Folge dessen un¬ muthig zurück und waren zuletzt nicht einmal mehr im Stande, eine nennens¬ werte Opposition in den Großen Räthen zu organisiren. Die Schwächen dieser radicalen Politik sollten sich jedoch allmälig ent¬ hüllen. Sie bestanden darin, daß nicht nur die compacten Massen, auf welche die starken Regierungen aufgebaut waren, mehr von Leidenschaften, Vor¬ urtheilen und Schlagwörtern als von Principien geleitet wurden, sondern daß diese Politik in der Regel sich auf eine einzige hervorragende Persön¬ lichkeit stützte und in Schlaffheit und Unthätigkeit verfiel, sobald diese zurück- trat. Die demokratische Grundlage mochte noch so breit sein, wenn man nicht die Lücken auszufüllen verstand, die unter den Volksführern entstanden, so mußte endlich der Augenblick eintreten, wo das System zerfiel und die Fehler, die man während des Kampfes mit den alten Gegnern übersehen hatte, sich straften. Allmälig ward es dem Volke bewußt, daß man sich mehr seiner bedient, als ihm gedient hatte, und wenn es auch nach alter Ge¬ wohnheit noch eine Zeit lang fortfährt, für seine Führer zu stimmen, weil keine organisirte Opposition mehr da ist, so macht sich doch früher oder später bei irgend einem unvorhergesehenen Anlaß plötzlich die Unzufriedenheit unter einem beliebigen Vorwande Luft. Wir sehen also die Radicalen im Grunde denselben Fehler begehen, dessen sich früher die Liberalen schuldig gemacht. Diese meinten einst die Massen zu sich emporheben zu können, ohne ihnen entgegenzukommen; jene ließen sich zwar zu denselben herab, aber nur, um ihnen zu folgen, statt sie zu sich emporzuziehen. Sie formirter sich als eng geschlossene Oligarchie, obschon sie sich auf die Massen stützten. Besonders in kleinen Gemeinwesen ist aber, die Ausschließung irgend einer Classe der Staatsbürger nicht blos ein Fehler,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/133>, abgerufen am 24.08.2024.