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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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mehr um ein moralisches Unrecht, wie es A. Coquerel geschehen, sondern um
eine Uebertretung des Gesetzes, welches ausdrücklich die Unabsetzbarkeit der
Geistlichen garantirr. Sofort setzte eine Anzahl Geistlicher einen Protest
auf, der in wenigen Tagen die Zustimmung von über 200 Amtsbrüdern in
ganz Frankreich erhielt. Selbst aus dem orthodoxen Lager erfolgten Zu¬
schriften, aus welchen zum Theil in sehr energischer Weise die beleidigte
Würde des Standes sprach. Ganze Consistorien schlössen sich dem Protest
an. Auch die lutherische Kirche, die soeben durch die Ernennung T. Colani's
zum Professor der practischen Theologie an der Facultät und zum Professor
der Philosophie am Seminar zu Straßburg in eine ähnliche, durch die frei¬
sinnige Entscheidung des Kaisers wieder beschwichtigte Bewegung versetzt
worden war, blieb nicht zurück. Eine Protestation von Straßburg trug die
Unterschriften von Colani, Reuß, Schmidt, Bruch, Baum und vielen anderen
Professoren und Geistlichen. Zum Theil wurden diese Proteste direct an den
Cultusminister Baroche gerichtet, der gleich auf die erste Mittheilung von
Martin sein Urtheil über die Illegalität des Acts fällte. Nach dem Gesetz
können die Functionen eines Pfarrers nur aufhören durch den Tod, durch
freiwilligen Rücktritt, oder durch die von der Staatsbehörde ausgesprochene
Absetzung. Der Act des Consistoriums, sagte der Minister, sei also eine
Umgehung der Mitwirkung der Staatsgewalt bei der Entfernung eines Pfar¬
rers, und er betrachte Martin nach wie vor als mit seinen Functionen be¬
kleidet. Dadurch war die Maßregel des Consistoriums als ungesetzlich sus-
pendirt, die beabsichtigte Neuwahl konnte nicht stattfinden, Martin blieb im
Amte. Obwohl seine körperliche Untüchtigkeit notorisch war, hielt er es sür
seine Pflicht auszuharren, um seine Stelle einem liberalen Geistlichen offen
zu halten. Für die Regierung aber konnte die im Gesetz nicht vorgesehene
körperliche Untüchtigkeit kein Grund für die Absetzung Martins sein, sie
hätte denn in diesem Fall Partei sür die orthodoxe Meinung genommen, ein
Eingriff in die häuslichen Händel der theologischen Parteien, den die Regierung
bisher sorgfältig vermieden hat.

Der Minister rechnete ohne Zweifel darauf, daß der für ihn peinlich zu
entscheidende Conflict doch noch eine Lösung innerhalb der Gemeinde selbst
finden werde. Allein daran war bei der steigenden Erbitterung und gleichen
Hartnäckigkeit beider Theile nicht zu denken. Von orthodoxer Seite war
man so wenig zum Nachgeben bereit, daß vielmehr beschlossen wurde, auch
das schwache Band, welches bisher noch die gemeinschaftlichen Conferenzen
für beide Theile gebildet hatten, entzwei zu reißen, wie es bereits sür die
Conferenzen im Garddepartement gelöst worden war. Als im April 1866
die Pariser Conferenzen eröffnet wurden, brachten die Orthodoxen den Zusatz
zum Reglement ein, daß die Conferenzen als Grundlage ihrer Berathungen


mehr um ein moralisches Unrecht, wie es A. Coquerel geschehen, sondern um
eine Uebertretung des Gesetzes, welches ausdrücklich die Unabsetzbarkeit der
Geistlichen garantirr. Sofort setzte eine Anzahl Geistlicher einen Protest
auf, der in wenigen Tagen die Zustimmung von über 200 Amtsbrüdern in
ganz Frankreich erhielt. Selbst aus dem orthodoxen Lager erfolgten Zu¬
schriften, aus welchen zum Theil in sehr energischer Weise die beleidigte
Würde des Standes sprach. Ganze Consistorien schlössen sich dem Protest
an. Auch die lutherische Kirche, die soeben durch die Ernennung T. Colani's
zum Professor der practischen Theologie an der Facultät und zum Professor
der Philosophie am Seminar zu Straßburg in eine ähnliche, durch die frei¬
sinnige Entscheidung des Kaisers wieder beschwichtigte Bewegung versetzt
worden war, blieb nicht zurück. Eine Protestation von Straßburg trug die
Unterschriften von Colani, Reuß, Schmidt, Bruch, Baum und vielen anderen
Professoren und Geistlichen. Zum Theil wurden diese Proteste direct an den
Cultusminister Baroche gerichtet, der gleich auf die erste Mittheilung von
Martin sein Urtheil über die Illegalität des Acts fällte. Nach dem Gesetz
können die Functionen eines Pfarrers nur aufhören durch den Tod, durch
freiwilligen Rücktritt, oder durch die von der Staatsbehörde ausgesprochene
Absetzung. Der Act des Consistoriums, sagte der Minister, sei also eine
Umgehung der Mitwirkung der Staatsgewalt bei der Entfernung eines Pfar¬
rers, und er betrachte Martin nach wie vor als mit seinen Functionen be¬
kleidet. Dadurch war die Maßregel des Consistoriums als ungesetzlich sus-
pendirt, die beabsichtigte Neuwahl konnte nicht stattfinden, Martin blieb im
Amte. Obwohl seine körperliche Untüchtigkeit notorisch war, hielt er es sür
seine Pflicht auszuharren, um seine Stelle einem liberalen Geistlichen offen
zu halten. Für die Regierung aber konnte die im Gesetz nicht vorgesehene
körperliche Untüchtigkeit kein Grund für die Absetzung Martins sein, sie
hätte denn in diesem Fall Partei sür die orthodoxe Meinung genommen, ein
Eingriff in die häuslichen Händel der theologischen Parteien, den die Regierung
bisher sorgfältig vermieden hat.

Der Minister rechnete ohne Zweifel darauf, daß der für ihn peinlich zu
entscheidende Conflict doch noch eine Lösung innerhalb der Gemeinde selbst
finden werde. Allein daran war bei der steigenden Erbitterung und gleichen
Hartnäckigkeit beider Theile nicht zu denken. Von orthodoxer Seite war
man so wenig zum Nachgeben bereit, daß vielmehr beschlossen wurde, auch
das schwache Band, welches bisher noch die gemeinschaftlichen Conferenzen
für beide Theile gebildet hatten, entzwei zu reißen, wie es bereits sür die
Conferenzen im Garddepartement gelöst worden war. Als im April 1866
die Pariser Conferenzen eröffnet wurden, brachten die Orthodoxen den Zusatz
zum Reglement ein, daß die Conferenzen als Grundlage ihrer Berathungen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/104>, abgerufen am 24.08.2024.