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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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anderes constatirt, als daß die Kirchen im Norden von Frankreich vorherr¬
schend orthodox sind.

Auf der Ulmer Conferenz bildeten die Orthodoxen, obwohl sie alle
Kräfte aufgeboten hatten, nur ein Drittel der anwesenden zahlreichen Mit¬
glieder. Gegenstand der Tagesordnung war das apostolische Glaubens¬
bekenntniß, über welches der im Jahre zuvor zum Berichterstatter ernannte
Pfarrer Viguie von Nimes eine geschichtliche Abhandlung vortrug. Diese
Abhandlung, welche sich namentlich über die Entstehung des Symbols ver¬
breitete, war natürlich nicht geeignet, Anhänger für den Antrag zu werben,
welchen die Orthodoxen stellten, nämlich die förmliche Zustimmung zu diesem
Symbol zu erklären. Dagegen traten die Liberalen, nachdem die Tages¬
ordnung erledigt war, mit einer Ansprache an die Gläubigen der reformirten
Kirche in Frankreich hervor, welche bestimmt war. zu versöhnen und zu be¬
ruhigen, aber auf dem Boden der gleichmäßigen Duldung beider Richtungen.
Wir heben aus dieser Ansprache, welche fast der classische Ausdruck für die
Meinung der Liberalen geworden ist, nur den einen Satz heraus: "Beseelt
vom Geist der Liebe, wie er Jüngern Christi ziemt, suchen wir vor Allem
nicht das, was trennt, sondern das, was einigt. Wir reichen uns die Hand
trotz der Verschiedenheit unserer theologischen Ansichten, und diese Verschieden¬
heit selbst wird unter uns ein Element der Thätigkeit, des Fortschritts und
Lebens sein. Wir wollen -Niemand ausschließen, wir sind glücklich, in der¬
selben Kirche zu leben mit allen denen, welche unseren Herrn Jesus Christus
reinen Herzens lieben und welche die beiden großen Grundsätze des Pro¬
testantismus annehmen: das Evangelium und die Freiheit." Diese Adresse
wurde von 109 Geistlichen unterzeichnet. Die Orthodoxen hatten vor deren
Verlesung geräuschvoll den Saal verlassen und unterzeichneten mit den ihnen
anhängenden Laien eine Gegenerklärung. Die beste Legitimation des libe¬
ralen Protestantismus waren die beredten Kanzelvortrage, welche in den Tagen
der Confereriz Athanase Coquerel, Sohn, und der junge feurige Pfarrer
Pelissier von Bordeaux vor dicht gedrängten Bänken hielten. So stand also
Nimes gegen Paris, der Süden gegen den Norden, die Liberalen gegen die
Orthodoxen; die Spaltung in zwei scharf geschiedene Heerlager war vollendet.

Gleich nach der Ulmer Conferenz beschlossen die Orthodoxen, künftig
daselbst separate Konferenzen zu halten ; in der Minderheit zu sein, war ihnen
unerträglich. Auch sonst mehrten sich die Symptome eines verschärften Gegen¬
satzes. In Paris blieb die Suffraganstelle des Pfarrers Martin-Paschoud
unbesetzt. Dieser machte von seinem Recht der Initiative keinen anderen Ge¬
brauch, als daß er immer Coquerel vorschlug, ein Vorschlag, den ebenso regel¬
mäßig der Presbyterialrath zurückwies. Der kranke Mann war dadurch ge¬
nöthigt, selber wieder die Kanzel zu besteigen, und wenn er. da das Pre"


anderes constatirt, als daß die Kirchen im Norden von Frankreich vorherr¬
schend orthodox sind.

Auf der Ulmer Conferenz bildeten die Orthodoxen, obwohl sie alle
Kräfte aufgeboten hatten, nur ein Drittel der anwesenden zahlreichen Mit¬
glieder. Gegenstand der Tagesordnung war das apostolische Glaubens¬
bekenntniß, über welches der im Jahre zuvor zum Berichterstatter ernannte
Pfarrer Viguie von Nimes eine geschichtliche Abhandlung vortrug. Diese
Abhandlung, welche sich namentlich über die Entstehung des Symbols ver¬
breitete, war natürlich nicht geeignet, Anhänger für den Antrag zu werben,
welchen die Orthodoxen stellten, nämlich die förmliche Zustimmung zu diesem
Symbol zu erklären. Dagegen traten die Liberalen, nachdem die Tages¬
ordnung erledigt war, mit einer Ansprache an die Gläubigen der reformirten
Kirche in Frankreich hervor, welche bestimmt war. zu versöhnen und zu be¬
ruhigen, aber auf dem Boden der gleichmäßigen Duldung beider Richtungen.
Wir heben aus dieser Ansprache, welche fast der classische Ausdruck für die
Meinung der Liberalen geworden ist, nur den einen Satz heraus: „Beseelt
vom Geist der Liebe, wie er Jüngern Christi ziemt, suchen wir vor Allem
nicht das, was trennt, sondern das, was einigt. Wir reichen uns die Hand
trotz der Verschiedenheit unserer theologischen Ansichten, und diese Verschieden¬
heit selbst wird unter uns ein Element der Thätigkeit, des Fortschritts und
Lebens sein. Wir wollen -Niemand ausschließen, wir sind glücklich, in der¬
selben Kirche zu leben mit allen denen, welche unseren Herrn Jesus Christus
reinen Herzens lieben und welche die beiden großen Grundsätze des Pro¬
testantismus annehmen: das Evangelium und die Freiheit." Diese Adresse
wurde von 109 Geistlichen unterzeichnet. Die Orthodoxen hatten vor deren
Verlesung geräuschvoll den Saal verlassen und unterzeichneten mit den ihnen
anhängenden Laien eine Gegenerklärung. Die beste Legitimation des libe¬
ralen Protestantismus waren die beredten Kanzelvortrage, welche in den Tagen
der Confereriz Athanase Coquerel, Sohn, und der junge feurige Pfarrer
Pelissier von Bordeaux vor dicht gedrängten Bänken hielten. So stand also
Nimes gegen Paris, der Süden gegen den Norden, die Liberalen gegen die
Orthodoxen; die Spaltung in zwei scharf geschiedene Heerlager war vollendet.

Gleich nach der Ulmer Conferenz beschlossen die Orthodoxen, künftig
daselbst separate Konferenzen zu halten ; in der Minderheit zu sein, war ihnen
unerträglich. Auch sonst mehrten sich die Symptome eines verschärften Gegen¬
satzes. In Paris blieb die Suffraganstelle des Pfarrers Martin-Paschoud
unbesetzt. Dieser machte von seinem Recht der Initiative keinen anderen Ge¬
brauch, als daß er immer Coquerel vorschlug, ein Vorschlag, den ebenso regel¬
mäßig der Presbyterialrath zurückwies. Der kranke Mann war dadurch ge¬
nöthigt, selber wieder die Kanzel zu besteigen, und wenn er. da das Pre«


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/100>, abgerufen am 05.02.2025.