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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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ste"lungen, in der Cowpofition oft mit den Mosaikbildern identisch, lassen
gleichfalls einen feineren Formensinn, als man ihn sonst findet, und eine
bessere Zeichnung durchblicken. Darf man vollends die Elfenbeinschnitzereien
im Dome zu Salerno (Scenen aus dem alten und neuen Testament am
Sacristeialtare) aus dem Anfange des 13. Jahrhunderts einem heimischen
Meister zuschreiben, so gewinnt man eine natürliche Entwickelungsreihe, in
welche sich Niccola Pisano zwanglos einordnet. Wir übergehen dabei die
glänzenden Culturverhältnisse, die politische Macht, den Aufschwung und
Reichthum^ süditalischer Fürsten und Städte, welche zu Gunsten unserer An¬
nahme sprechen; das Studium der Denkmäler reicht hin, uns von der Wahr¬
scheinlichkeit, daß Niccola Pisano seine artistische Erziehung in Apulien ge¬
noß, zu überzeugen.

Die Schönheit, welche Niccola seinen Arbeiten einhauchte, war und blieb
nicht das Ziel der italienischen Kunst. Der Erörterung dieses Gedankens wid¬
men unsere Verfasser das nächste Capitel, das Giotto's Herkunft und Be¬
deutung uns verständlich machen soll. Wenn es heißt, daß die Künstler
Mittelitaliens bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts "fast auf einen einzigen
Gegenstand sich concentriren: auf die Darstellung des Gekreuzigten", so
könnte man vielleicht zu Gunsten der Madonnenmalerei eine Ausnahme machen.
Doch genügt die vergleichende Kritik einer Gattung von Darstellungen, um
den Zustand der italienischen Malerei deutlich zu erkennen, und darauf kommt
es wesentlich an. Die Verfasser haben die Tugend der Entsagung in sel¬
tenem Grade geübt, daß sie diesen Schauerbildern mit beharrlichem Fleiß
nachforschten und sie der genauesten Prüfung unterwarfen. Wer an den
Schönheitssinn der Italiener als eine Naturgabe, die nicht erworben zu wer¬
den braucht, allen künstlerischen Unternehmungen von selbst sich aufprägt,
glaubt, findet sich gegenüber den Crucifixen des 13. Jahrhunderts gründlich
enttäuscht. Die finstere Phantasie des Nordens ist hier nahezu erreicht, wenn
nicht übertroffen. Aber als erste Spuren einer selbständigen Auffassung der
Ereignisse, als die frühesten Versuche, tiefere Empfindung und Wahrhaftigkeit
den Bildern einzuweben, haben sie eine gewisse Bedeutung trotz der häßlichen
Formen und der rohen Technik. Wie bei jeder Umwälzung ging man zu¬
nächst der alten Vortheile verlustig, ohne neue zu erwerben. Erst allmälig
wird für die ersteren vollständiger Ersatz geboten, erst bei Cimabue und noch
mehr bei Giotto erkennt man die Nothwendigkeit des vorangegangenen Ab¬
falls von der ruhigen classischen Weise, welche sich noch in den früheren
Jahrhunderten des Mittelalters erhalten hatte, aber der lebendigen Wiedergabe
des Ideals, wie es sich besonders unter dem Einfluß des Franciskcmerordens
in Italien ausbildete, hinderlich war. Bot das Capitel über die Crucifixe
den Verfassern die Gelegenheit, mit den Pisaner, Luccheser und Sienenser


ste»lungen, in der Cowpofition oft mit den Mosaikbildern identisch, lassen
gleichfalls einen feineren Formensinn, als man ihn sonst findet, und eine
bessere Zeichnung durchblicken. Darf man vollends die Elfenbeinschnitzereien
im Dome zu Salerno (Scenen aus dem alten und neuen Testament am
Sacristeialtare) aus dem Anfange des 13. Jahrhunderts einem heimischen
Meister zuschreiben, so gewinnt man eine natürliche Entwickelungsreihe, in
welche sich Niccola Pisano zwanglos einordnet. Wir übergehen dabei die
glänzenden Culturverhältnisse, die politische Macht, den Aufschwung und
Reichthum^ süditalischer Fürsten und Städte, welche zu Gunsten unserer An¬
nahme sprechen; das Studium der Denkmäler reicht hin, uns von der Wahr¬
scheinlichkeit, daß Niccola Pisano seine artistische Erziehung in Apulien ge¬
noß, zu überzeugen.

Die Schönheit, welche Niccola seinen Arbeiten einhauchte, war und blieb
nicht das Ziel der italienischen Kunst. Der Erörterung dieses Gedankens wid¬
men unsere Verfasser das nächste Capitel, das Giotto's Herkunft und Be¬
deutung uns verständlich machen soll. Wenn es heißt, daß die Künstler
Mittelitaliens bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts „fast auf einen einzigen
Gegenstand sich concentriren: auf die Darstellung des Gekreuzigten", so
könnte man vielleicht zu Gunsten der Madonnenmalerei eine Ausnahme machen.
Doch genügt die vergleichende Kritik einer Gattung von Darstellungen, um
den Zustand der italienischen Malerei deutlich zu erkennen, und darauf kommt
es wesentlich an. Die Verfasser haben die Tugend der Entsagung in sel¬
tenem Grade geübt, daß sie diesen Schauerbildern mit beharrlichem Fleiß
nachforschten und sie der genauesten Prüfung unterwarfen. Wer an den
Schönheitssinn der Italiener als eine Naturgabe, die nicht erworben zu wer¬
den braucht, allen künstlerischen Unternehmungen von selbst sich aufprägt,
glaubt, findet sich gegenüber den Crucifixen des 13. Jahrhunderts gründlich
enttäuscht. Die finstere Phantasie des Nordens ist hier nahezu erreicht, wenn
nicht übertroffen. Aber als erste Spuren einer selbständigen Auffassung der
Ereignisse, als die frühesten Versuche, tiefere Empfindung und Wahrhaftigkeit
den Bildern einzuweben, haben sie eine gewisse Bedeutung trotz der häßlichen
Formen und der rohen Technik. Wie bei jeder Umwälzung ging man zu¬
nächst der alten Vortheile verlustig, ohne neue zu erwerben. Erst allmälig
wird für die ersteren vollständiger Ersatz geboten, erst bei Cimabue und noch
mehr bei Giotto erkennt man die Nothwendigkeit des vorangegangenen Ab¬
falls von der ruhigen classischen Weise, welche sich noch in den früheren
Jahrhunderten des Mittelalters erhalten hatte, aber der lebendigen Wiedergabe
des Ideals, wie es sich besonders unter dem Einfluß des Franciskcmerordens
in Italien ausbildete, hinderlich war. Bot das Capitel über die Crucifixe
den Verfassern die Gelegenheit, mit den Pisaner, Luccheser und Sienenser


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/93>, abgerufen am 24.07.2024.