Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Reimersche Haus in der Wilhelmsstraße an das Departement der auswär¬
tigen Angelegenheiten vermiethet wird, redet die ganze Stadt davon und
"Manchen erscheint es im Ernst bedenklich und gefahrvoll, daß die Staats¬
verhandlungen gegen die Demagogen nun einem Erzdemagogen ins Haus
gelegt werden und zwar zu dessen Nutzen und Vortheil. Und was soll die
Polizei jetzt anfangen, wenn sie wieder, wie schon geschehen, die Besuche
beobachten will, die zu Reimer und Schleiermacher gehen?" Schleiermacher's
"Gefährlichkeit" scheint um jene Zeit in ihrer vollsten Blüthe gestanden zu haben.
Der Widerstand des muthigen Mannes gegen die Octroyirung der neuen
Liturgie verwickelt ihn in ernstliche Gefahren, immer wieder ist von seiner
Absetzung die Rede. So groß ist die Furcht davor, mir dem mißliebigen
Prediger in irgend welche Berührung zu kommen, daß der Minister v. Alten¬
stein von der Trauung einer nahen Verwandten wegbleibt, weil dieselbe von
Schleiermacher vollzogen wird! -- ?ersona> sratissima ist dagegen Hegel und
Varnhagen macht schon im Jahre 1826 die Bemerkung, dieser Philosoph
scheine es nicht auf eine Schule, sondern auf eine politische Partei abgesehen
zu haben. -- Ziemlich ausführlich verweilen die "Blätter" bei der Schilderung
von Stein's letztem Besuch in Berlin. "Er ist sehr alt geworden, hat das
rechte Auge verloren, sieht aber noch sehr stattlich und ehrwürdig aus. Er
war ungemein freundlich gegen mich, mild und heiter in jeder Aeußerung.
Er lobt die Provinzialstände, will aber mehr Oeffentlichkeit und regeren
Volksgeist. Der Aristokrat kam nicht zum Vorschein, eher etwas Demokrati¬
sches; er pries Amerika, die dortige Freiheit, es sei dort besser, als hier.
Er tadelte mich, daß ich eine Sendung nach Washington ausgeschlagen.
"Und wenn Sie auch Ihr ganzes Leben dort hätten zubringen müssen --
desto besser." Trotz der freundlichen Aufnahme, die ihm allenthalben wurde,
war der alte Staatsmann sich seines Gegensatzes gegen die herrschende Rich¬
tung in vollem Maße bewußt. Als man ihn aufforderte, noch länger in
Berlin zu bleiben, erwiderte er mit launiger Schärfe: "I Gott bewahre, ich
muß machen, daß ich wegkomme, sonst riskire ich noch gar, wegen meiner
demokratischen Gesinnungen eingesteckt zu werden."

Was wir aus dem übrigen Deutschland zu hören bekommen. beschränkt
sich im Wesentlichen auf die Höfe und ist schon darum wenig erbaulich; hie
und da erfährt man höchstens noch etwas von den Kämpfen der Rheinpro¬
vinz um Erhaltung des französischen Rechts, von der bösen Stimmung in
den deutsch-östreichischen Ländern (namentlich Böhmen) und von dem Ein¬
druck, den hervorragendere literarische Neuigkeiten bei ihrem ersten Er¬
scheinen gemacht haben: Goethes Werke erscheinen in der Gesammtausgabe,
Heine läßt die späteren Bände seiner Reisebilder erscheinen, Börne sammelt
seine kleinen Schriften. Für die großen Massen ist übrigens Saphir noch


Reimersche Haus in der Wilhelmsstraße an das Departement der auswär¬
tigen Angelegenheiten vermiethet wird, redet die ganze Stadt davon und
„Manchen erscheint es im Ernst bedenklich und gefahrvoll, daß die Staats¬
verhandlungen gegen die Demagogen nun einem Erzdemagogen ins Haus
gelegt werden und zwar zu dessen Nutzen und Vortheil. Und was soll die
Polizei jetzt anfangen, wenn sie wieder, wie schon geschehen, die Besuche
beobachten will, die zu Reimer und Schleiermacher gehen?" Schleiermacher's
„Gefährlichkeit" scheint um jene Zeit in ihrer vollsten Blüthe gestanden zu haben.
Der Widerstand des muthigen Mannes gegen die Octroyirung der neuen
Liturgie verwickelt ihn in ernstliche Gefahren, immer wieder ist von seiner
Absetzung die Rede. So groß ist die Furcht davor, mir dem mißliebigen
Prediger in irgend welche Berührung zu kommen, daß der Minister v. Alten¬
stein von der Trauung einer nahen Verwandten wegbleibt, weil dieselbe von
Schleiermacher vollzogen wird! — ?ersona> sratissima ist dagegen Hegel und
Varnhagen macht schon im Jahre 1826 die Bemerkung, dieser Philosoph
scheine es nicht auf eine Schule, sondern auf eine politische Partei abgesehen
zu haben. — Ziemlich ausführlich verweilen die „Blätter" bei der Schilderung
von Stein's letztem Besuch in Berlin. „Er ist sehr alt geworden, hat das
rechte Auge verloren, sieht aber noch sehr stattlich und ehrwürdig aus. Er
war ungemein freundlich gegen mich, mild und heiter in jeder Aeußerung.
Er lobt die Provinzialstände, will aber mehr Oeffentlichkeit und regeren
Volksgeist. Der Aristokrat kam nicht zum Vorschein, eher etwas Demokrati¬
sches; er pries Amerika, die dortige Freiheit, es sei dort besser, als hier.
Er tadelte mich, daß ich eine Sendung nach Washington ausgeschlagen.
„Und wenn Sie auch Ihr ganzes Leben dort hätten zubringen müssen —
desto besser." Trotz der freundlichen Aufnahme, die ihm allenthalben wurde,
war der alte Staatsmann sich seines Gegensatzes gegen die herrschende Rich¬
tung in vollem Maße bewußt. Als man ihn aufforderte, noch länger in
Berlin zu bleiben, erwiderte er mit launiger Schärfe: „I Gott bewahre, ich
muß machen, daß ich wegkomme, sonst riskire ich noch gar, wegen meiner
demokratischen Gesinnungen eingesteckt zu werden."

Was wir aus dem übrigen Deutschland zu hören bekommen. beschränkt
sich im Wesentlichen auf die Höfe und ist schon darum wenig erbaulich; hie
und da erfährt man höchstens noch etwas von den Kämpfen der Rheinpro¬
vinz um Erhaltung des französischen Rechts, von der bösen Stimmung in
den deutsch-östreichischen Ländern (namentlich Böhmen) und von dem Ein¬
druck, den hervorragendere literarische Neuigkeiten bei ihrem ersten Er¬
scheinen gemacht haben: Goethes Werke erscheinen in der Gesammtausgabe,
Heine läßt die späteren Bände seiner Reisebilder erscheinen, Börne sammelt
seine kleinen Schriften. Für die großen Massen ist übrigens Saphir noch


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0085" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/120772"/>
          <p xml:id="ID_215" prev="#ID_214"> Reimersche Haus in der Wilhelmsstraße an das Departement der auswär¬<lb/>
tigen Angelegenheiten vermiethet wird, redet die ganze Stadt davon und<lb/>
&#x201E;Manchen erscheint es im Ernst bedenklich und gefahrvoll, daß die Staats¬<lb/>
verhandlungen gegen die Demagogen nun einem Erzdemagogen ins Haus<lb/>
gelegt werden und zwar zu dessen Nutzen und Vortheil.  Und was soll die<lb/>
Polizei jetzt anfangen, wenn sie wieder, wie schon geschehen, die Besuche<lb/>
beobachten will, die zu Reimer und Schleiermacher gehen?" Schleiermacher's<lb/>
&#x201E;Gefährlichkeit" scheint um jene Zeit in ihrer vollsten Blüthe gestanden zu haben.<lb/>
Der Widerstand des muthigen Mannes gegen die Octroyirung der neuen<lb/>
Liturgie verwickelt ihn in ernstliche Gefahren, immer wieder ist von seiner<lb/>
Absetzung die Rede.  So groß ist die Furcht davor, mir dem mißliebigen<lb/>
Prediger in irgend welche Berührung zu kommen, daß der Minister v. Alten¬<lb/>
stein von der Trauung einer nahen Verwandten wegbleibt, weil dieselbe von<lb/>
Schleiermacher vollzogen wird! &#x2014; ?ersona&gt; sratissima ist dagegen Hegel und<lb/>
Varnhagen macht schon im Jahre 1826 die Bemerkung, dieser Philosoph<lb/>
scheine es nicht auf eine Schule, sondern auf eine politische Partei abgesehen<lb/>
zu haben. &#x2014; Ziemlich ausführlich verweilen die &#x201E;Blätter" bei der Schilderung<lb/>
von Stein's letztem Besuch in Berlin.  &#x201E;Er ist sehr alt geworden, hat das<lb/>
rechte Auge verloren, sieht aber noch sehr stattlich und ehrwürdig aus. Er<lb/>
war ungemein freundlich gegen mich, mild und heiter in jeder Aeußerung.<lb/>
Er lobt die Provinzialstände, will aber mehr Oeffentlichkeit und regeren<lb/>
Volksgeist.  Der Aristokrat kam nicht zum Vorschein, eher etwas Demokrati¬<lb/>
sches; er pries Amerika, die dortige Freiheit, es sei dort besser, als hier.<lb/>
Er tadelte mich, daß ich eine Sendung nach Washington ausgeschlagen.<lb/>
&#x201E;Und wenn Sie auch Ihr ganzes Leben dort hätten zubringen müssen &#x2014;<lb/>
desto besser."  Trotz der freundlichen Aufnahme, die ihm allenthalben wurde,<lb/>
war der alte Staatsmann sich seines Gegensatzes gegen die herrschende Rich¬<lb/>
tung in vollem Maße bewußt.  Als man ihn aufforderte, noch länger in<lb/>
Berlin zu bleiben, erwiderte er mit launiger Schärfe: &#x201E;I Gott bewahre, ich<lb/>
muß machen, daß ich wegkomme, sonst riskire ich noch gar, wegen meiner<lb/>
demokratischen Gesinnungen eingesteckt zu werden."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_216" next="#ID_217"> Was wir aus dem übrigen Deutschland zu hören bekommen. beschränkt<lb/>
sich im Wesentlichen auf die Höfe und ist schon darum wenig erbaulich; hie<lb/>
und da erfährt man höchstens noch etwas von den Kämpfen der Rheinpro¬<lb/>
vinz um Erhaltung des französischen Rechts, von der bösen Stimmung in<lb/>
den deutsch-östreichischen Ländern (namentlich Böhmen) und von dem Ein¬<lb/>
druck, den hervorragendere literarische Neuigkeiten bei ihrem ersten Er¬<lb/>
scheinen gemacht haben: Goethes Werke erscheinen in der Gesammtausgabe,<lb/>
Heine läßt die späteren Bände seiner Reisebilder erscheinen, Börne sammelt<lb/>
seine kleinen Schriften.  Für die großen Massen ist übrigens Saphir noch</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0085] Reimersche Haus in der Wilhelmsstraße an das Departement der auswär¬ tigen Angelegenheiten vermiethet wird, redet die ganze Stadt davon und „Manchen erscheint es im Ernst bedenklich und gefahrvoll, daß die Staats¬ verhandlungen gegen die Demagogen nun einem Erzdemagogen ins Haus gelegt werden und zwar zu dessen Nutzen und Vortheil. Und was soll die Polizei jetzt anfangen, wenn sie wieder, wie schon geschehen, die Besuche beobachten will, die zu Reimer und Schleiermacher gehen?" Schleiermacher's „Gefährlichkeit" scheint um jene Zeit in ihrer vollsten Blüthe gestanden zu haben. Der Widerstand des muthigen Mannes gegen die Octroyirung der neuen Liturgie verwickelt ihn in ernstliche Gefahren, immer wieder ist von seiner Absetzung die Rede. So groß ist die Furcht davor, mir dem mißliebigen Prediger in irgend welche Berührung zu kommen, daß der Minister v. Alten¬ stein von der Trauung einer nahen Verwandten wegbleibt, weil dieselbe von Schleiermacher vollzogen wird! — ?ersona> sratissima ist dagegen Hegel und Varnhagen macht schon im Jahre 1826 die Bemerkung, dieser Philosoph scheine es nicht auf eine Schule, sondern auf eine politische Partei abgesehen zu haben. — Ziemlich ausführlich verweilen die „Blätter" bei der Schilderung von Stein's letztem Besuch in Berlin. „Er ist sehr alt geworden, hat das rechte Auge verloren, sieht aber noch sehr stattlich und ehrwürdig aus. Er war ungemein freundlich gegen mich, mild und heiter in jeder Aeußerung. Er lobt die Provinzialstände, will aber mehr Oeffentlichkeit und regeren Volksgeist. Der Aristokrat kam nicht zum Vorschein, eher etwas Demokrati¬ sches; er pries Amerika, die dortige Freiheit, es sei dort besser, als hier. Er tadelte mich, daß ich eine Sendung nach Washington ausgeschlagen. „Und wenn Sie auch Ihr ganzes Leben dort hätten zubringen müssen — desto besser." Trotz der freundlichen Aufnahme, die ihm allenthalben wurde, war der alte Staatsmann sich seines Gegensatzes gegen die herrschende Rich¬ tung in vollem Maße bewußt. Als man ihn aufforderte, noch länger in Berlin zu bleiben, erwiderte er mit launiger Schärfe: „I Gott bewahre, ich muß machen, daß ich wegkomme, sonst riskire ich noch gar, wegen meiner demokratischen Gesinnungen eingesteckt zu werden." Was wir aus dem übrigen Deutschland zu hören bekommen. beschränkt sich im Wesentlichen auf die Höfe und ist schon darum wenig erbaulich; hie und da erfährt man höchstens noch etwas von den Kämpfen der Rheinpro¬ vinz um Erhaltung des französischen Rechts, von der bösen Stimmung in den deutsch-östreichischen Ländern (namentlich Böhmen) und von dem Ein¬ druck, den hervorragendere literarische Neuigkeiten bei ihrem ersten Er¬ scheinen gemacht haben: Goethes Werke erscheinen in der Gesammtausgabe, Heine läßt die späteren Bände seiner Reisebilder erscheinen, Börne sammelt seine kleinen Schriften. Für die großen Massen ist übrigens Saphir noch

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/85
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/85>, abgerufen am 24.07.2024.