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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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nich wieder schwer ärgern; aller Gewinn von dem Artikel des Staatsanzei¬
gers ist damit wieder aufgegeben.....Der König von Baiern hat für
die Griechen 20,000 Gulden gegeben..... 10. Juni. Die Griechen¬
sammlungen greifen immer kräftiger durch ganz Deutschland, überall bilden
sich Vereine, überall sprechen sich Gesinnungen aus und die öffentliche Mei¬
nung, nachdem ihr ein Ausbruch gegeben worden, wächst unaufhaltsam und
breitet sich gewaltsam aus. Diese Fluth ist nicht mehr zu beschränken. Ver¬
gebens strebt die östreichische Regierung noch entgegen, ihre Anhänger können
nur noch seufzen. Denn was will es sagen, wenn Herr v. Kamptz von dem
Cultusministerium ein Cireular an die sämmtlichen Professoren der hiesigen
Universität ausgehen läßt, worin diesen namentlich eingeschärft wird, daß die
Griechensammlungen nur allein für die Nothleidenden, aber ja nicht für die
Kämpfenden zu verstehen seien".

Ein Jahr später ist der Eifer für die griechische Sache bei Varn-
hagen beträchtlich abgeschwächt. Die Theilnahme an den Erfolgen der frau>
zösischen Kammeropposition und an Cannings liberaler Politik steht im Vor-
dergrunde auch seiner Interessen und er ist mit Gentz ziemlich einverstanden,
wenn dieser beim Tode Cannings klagt, daß der Einzige gestorben, der
Rußland noch im Zaume zu halten vermocht. -- Ziemlich breit ist der Raum,
den neben diesen politischen Betrachtungen, Bemerkungen und Anekdoten aus
dem socialen Leben Berlins einnehmen. Wir hören von einer Rellstab'schen
Brochüre über Henriette Sonntag und deren Verehrer, die in Berlin förm¬
liches Furore macht und selbst in den Hofkreisen und in der diplomatischen
Welt für ein Ereigniß gilt. Jeder neue Triumph der gefeierten Sängerin,
jede Gunstbezeugung des Hoff wird sorgfältig registrirt und abgewogen --
selbst, daß der König Mademoiselle Sonntag den weggeflogenen Papagei
durch einen neuen ersetzt hat. erfährt die Welt aus den Tagebüchern des
Geheimen Legationsraths.

Interessanter, wenn auch nach ihren Gegenständen kleinlich genug, sind die
Bemerkungen über Standes- und Parteikämpfe aus dem socialen Leben jener
Zeit. Die Streitfrage, ob die seit der Franzosenzeit üblich gewordene
Sitte, auch bürgerliche Mädchen "Fräulein" zu nennen, geduldet oder das
historische "Demoiselle" wiederhergestellt werden soll, wird bei Hof wie in
der Stadt mit leidenschaftlichem Eifer discutirt. "Alle Ministerien müssen
ihr Gutachten darüber abgeben" und Kamptz macht die wichtige Controverse
zum Gegenstand einer besondern Denkschrift. Ein ähnlicher Kampf entbrennt
wenig später über das Prädicat "Hochwohlgeboren". Jede Kleinigkeit ge¬
winnt bei der allgemeinen Gereiztheit den Charakter einer Principienfrage.
Die Reactionäre haben es dahin zu bringen gewußt, daß der König der
Enthüllung des Blüchermonuments nicht beiwohnt; als das vielbesprochene


nich wieder schwer ärgern; aller Gewinn von dem Artikel des Staatsanzei¬
gers ist damit wieder aufgegeben.....Der König von Baiern hat für
die Griechen 20,000 Gulden gegeben..... 10. Juni. Die Griechen¬
sammlungen greifen immer kräftiger durch ganz Deutschland, überall bilden
sich Vereine, überall sprechen sich Gesinnungen aus und die öffentliche Mei¬
nung, nachdem ihr ein Ausbruch gegeben worden, wächst unaufhaltsam und
breitet sich gewaltsam aus. Diese Fluth ist nicht mehr zu beschränken. Ver¬
gebens strebt die östreichische Regierung noch entgegen, ihre Anhänger können
nur noch seufzen. Denn was will es sagen, wenn Herr v. Kamptz von dem
Cultusministerium ein Cireular an die sämmtlichen Professoren der hiesigen
Universität ausgehen läßt, worin diesen namentlich eingeschärft wird, daß die
Griechensammlungen nur allein für die Nothleidenden, aber ja nicht für die
Kämpfenden zu verstehen seien".

Ein Jahr später ist der Eifer für die griechische Sache bei Varn-
hagen beträchtlich abgeschwächt. Die Theilnahme an den Erfolgen der frau>
zösischen Kammeropposition und an Cannings liberaler Politik steht im Vor-
dergrunde auch seiner Interessen und er ist mit Gentz ziemlich einverstanden,
wenn dieser beim Tode Cannings klagt, daß der Einzige gestorben, der
Rußland noch im Zaume zu halten vermocht. — Ziemlich breit ist der Raum,
den neben diesen politischen Betrachtungen, Bemerkungen und Anekdoten aus
dem socialen Leben Berlins einnehmen. Wir hören von einer Rellstab'schen
Brochüre über Henriette Sonntag und deren Verehrer, die in Berlin förm¬
liches Furore macht und selbst in den Hofkreisen und in der diplomatischen
Welt für ein Ereigniß gilt. Jeder neue Triumph der gefeierten Sängerin,
jede Gunstbezeugung des Hoff wird sorgfältig registrirt und abgewogen —
selbst, daß der König Mademoiselle Sonntag den weggeflogenen Papagei
durch einen neuen ersetzt hat. erfährt die Welt aus den Tagebüchern des
Geheimen Legationsraths.

Interessanter, wenn auch nach ihren Gegenständen kleinlich genug, sind die
Bemerkungen über Standes- und Parteikämpfe aus dem socialen Leben jener
Zeit. Die Streitfrage, ob die seit der Franzosenzeit üblich gewordene
Sitte, auch bürgerliche Mädchen „Fräulein" zu nennen, geduldet oder das
historische „Demoiselle" wiederhergestellt werden soll, wird bei Hof wie in
der Stadt mit leidenschaftlichem Eifer discutirt. „Alle Ministerien müssen
ihr Gutachten darüber abgeben" und Kamptz macht die wichtige Controverse
zum Gegenstand einer besondern Denkschrift. Ein ähnlicher Kampf entbrennt
wenig später über das Prädicat „Hochwohlgeboren". Jede Kleinigkeit ge¬
winnt bei der allgemeinen Gereiztheit den Charakter einer Principienfrage.
Die Reactionäre haben es dahin zu bringen gewußt, daß der König der
Enthüllung des Blüchermonuments nicht beiwohnt; als das vielbesprochene


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/84>, abgerufen am 24.07.2024.