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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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Castellane von Gujan, von denen er Uebles gesagt hatte, ihn umbrachten.
Die andere Version giebt an, er sei aus Gascogne und der Sohn einer
armen Frau, Maria Bruna, gewesen. Auch nach der zweiten Handschrift
machte er "böse Gedichte und schlimme Sirventese und sprach übel von
den Frauen und von der Liebe." In dieser letzten Eigenschaft, so zu
sagen als Antierotiker, werden wir ihn näher zu betrachten haben; doch
mögen zuvor noch einige bedeutsame Züge aus seinen übrigen Sirventesen
folgen. Auch von ihm besitzen wir ganz nach Art des erwähnten Liedes des
Mönchs von Montaudon ein Glaubensbekenntniß, worin er mit großer
Naivetät über die leitenden Gesichtspunkte seines Denkens und Handelns
Rechenschaft ablegt. "Dafür -- spricht er -- lob ich Gott und Se. Andreas,
daß Niemand von feinerem Verstände ist wie ich, aber ich mache nicht viel
Redens davon. Ich bin so reich an listigen Sinne, daß es sehr schwer hal¬
ten möchte, mich zu betrügen. Das Brod der Thoren esse ich, wenn es noch
warm und weich ist, und lasse meines unterdessen erkalten. So lange des
Narren Vorrath aushält, schwöre ich ihm, daß ich mich von ihm nicht
trennen könne, aber wenn er kein Brod mehr hat, dann mag er vergeblich
nach dem meinigen jammern. In dem Gehege eines Anderen lasse ich lustig
und frei meine Hunde bellen, aber mein Besitzthum habe ich so geschützt, daß
ich ganz allein es genieße. Jeder nehme sich vor mir in Acht, denn mit
solchen Künsten gedenke ich zu leben und zu sterben." In seinen moralischen
Sirventesen wendet sich Marcabrun zunächst gegen die allgemeinen Gebrechen
der Zeit und klagt besonders über den Verfall der wahren Liebe und Höf¬
lichkeit. Der Ton. welcher in diesen Gedichten herrscht, ist bei manchen ge¬
haltloser, oft cynischen Ausfällen im Ganzen von warmer Empfindung durch¬
weht und wird eines bedeutenden Eindrucks auf den Leser kaum verfehlen.
Wahrhaft gewaltig ist z. B. jenes Bild von dem ungeheuren Baume, der
seine Wurzeln tief in die Erde senkt, während seine Wipfel bis in die Wolken
ragen. An ihn sind unzählige Menschen gefesselt, alte und junge, Könige,
Grafen, Fürsten und Admiräle. Denn der mächtige Baum ist die Schlechtig¬
keit der Welt und Geiz und Habsucht sind die Fesseln. welche die Herzen
der Menschen umschlingen, so daß kaum einer sich losreißt. Ein anderes
vortreffliches Gedicht besingt den Werth der guten Sitte oder, um den ent¬
sprechenden mittelhochdeutschen Ausdruck zu gebrauchen, die an^e. Der
würdige Ernst dieses Liedes ist kaum mit den losen Scherzreden des an¬
geführten Glaubensbekenntnisses in Einklang zu bringen, und fast könnte
man auf den Gedanken kommen, Marcabrun habe in jenem Schelmenliede
nur das egoistische Treiben seiner Zeitgenossen persistiren wollen. Bei der
durchweg praktischen Richtung unseres Trobadors kann es übrigens nicht
Wunder nehmen, daß er mit mancher der überschwä"glich schwärmerischen Stro-


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Castellane von Gujan, von denen er Uebles gesagt hatte, ihn umbrachten.
Die andere Version giebt an, er sei aus Gascogne und der Sohn einer
armen Frau, Maria Bruna, gewesen. Auch nach der zweiten Handschrift
machte er „böse Gedichte und schlimme Sirventese und sprach übel von
den Frauen und von der Liebe." In dieser letzten Eigenschaft, so zu
sagen als Antierotiker, werden wir ihn näher zu betrachten haben; doch
mögen zuvor noch einige bedeutsame Züge aus seinen übrigen Sirventesen
folgen. Auch von ihm besitzen wir ganz nach Art des erwähnten Liedes des
Mönchs von Montaudon ein Glaubensbekenntniß, worin er mit großer
Naivetät über die leitenden Gesichtspunkte seines Denkens und Handelns
Rechenschaft ablegt. „Dafür — spricht er — lob ich Gott und Se. Andreas,
daß Niemand von feinerem Verstände ist wie ich, aber ich mache nicht viel
Redens davon. Ich bin so reich an listigen Sinne, daß es sehr schwer hal¬
ten möchte, mich zu betrügen. Das Brod der Thoren esse ich, wenn es noch
warm und weich ist, und lasse meines unterdessen erkalten. So lange des
Narren Vorrath aushält, schwöre ich ihm, daß ich mich von ihm nicht
trennen könne, aber wenn er kein Brod mehr hat, dann mag er vergeblich
nach dem meinigen jammern. In dem Gehege eines Anderen lasse ich lustig
und frei meine Hunde bellen, aber mein Besitzthum habe ich so geschützt, daß
ich ganz allein es genieße. Jeder nehme sich vor mir in Acht, denn mit
solchen Künsten gedenke ich zu leben und zu sterben." In seinen moralischen
Sirventesen wendet sich Marcabrun zunächst gegen die allgemeinen Gebrechen
der Zeit und klagt besonders über den Verfall der wahren Liebe und Höf¬
lichkeit. Der Ton. welcher in diesen Gedichten herrscht, ist bei manchen ge¬
haltloser, oft cynischen Ausfällen im Ganzen von warmer Empfindung durch¬
weht und wird eines bedeutenden Eindrucks auf den Leser kaum verfehlen.
Wahrhaft gewaltig ist z. B. jenes Bild von dem ungeheuren Baume, der
seine Wurzeln tief in die Erde senkt, während seine Wipfel bis in die Wolken
ragen. An ihn sind unzählige Menschen gefesselt, alte und junge, Könige,
Grafen, Fürsten und Admiräle. Denn der mächtige Baum ist die Schlechtig¬
keit der Welt und Geiz und Habsucht sind die Fesseln. welche die Herzen
der Menschen umschlingen, so daß kaum einer sich losreißt. Ein anderes
vortreffliches Gedicht besingt den Werth der guten Sitte oder, um den ent¬
sprechenden mittelhochdeutschen Ausdruck zu gebrauchen, die an^e. Der
würdige Ernst dieses Liedes ist kaum mit den losen Scherzreden des an¬
geführten Glaubensbekenntnisses in Einklang zu bringen, und fast könnte
man auf den Gedanken kommen, Marcabrun habe in jenem Schelmenliede
nur das egoistische Treiben seiner Zeitgenossen persistiren wollen. Bei der
durchweg praktischen Richtung unseres Trobadors kann es übrigens nicht
Wunder nehmen, daß er mit mancher der überschwä»glich schwärmerischen Stro-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/59>, abgerufen am 24.07.2024.