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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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wenn sie Thiers nicht wiederwählten!" Thiers aber war sehr daran gelegen
wieder in die Kammer zu kommen, denn, sagte er ,M encors quelqaeg
xetitss euoses ä aire."

Und wer stand diesen erprobten Kämpfern gegenüber? D'Akkon-She'e, ein
Edelmann, von dem man nichts wußte, als daß er 1852 mit Morny auf
Du und Du stand und daß er sein ganzes Vermögen in Amerika verloren!
Raspail, der alte Störenfried, der durch seinen frevelhaften Einbruch in die
Nationalversammlung am 15. Mai 1848 einer der Urheber der Junitage wurde!
Rochefort endlich, ein unwissender Pamphletist von zweifelhaftem Geschmack,
der nichts liest, nichts lernt, aber in maßlosester Weise den Kaiser persönlich
angegriffen und beschimpft, hat! Und gerade deshalb, weil er so maßlos ge¬
wesen, ist er von den Arbeitern vorgeschlagen worden, wird er von ihnen auf
den Händen getragen. Und für wessen materielles Wohl hat der Kaiser besser
gesorgt als für das des vierten Standes? Rochefort's Candidatur war eine
unnütze und fehlerhafte Demonstration, aber als solche von Bedeutung. In
einem Wahlbezirke, den die Regierung bereits verloren gegeben hatte, kam
es nicht darauf an, energisch zu Protestiren (wie man es gegen eine unent¬
rinnbare Majorität gethan haben würde), sondern eine tüchtige Wahl zu
Stande zu bringen, und dazu taugte doch Rochefort nicht! Glücklicherweise
haben die Wähler des 7. Bezirks noch in letzter Stunde diese Einsicht ge¬
habt und die Ehre des Pariser bon Lens gerettet. Jules Favre's Brief an
sie war ein Muster von Adel und männlicher Würden

Die Stellung eines Pariser Candidaten war keine Sinekure; in der kurzen
Zeit, die von der Verfassung zu Wahlversammlungen eingeräumt wird, mußten
sie an demselben Tage oft an mehreren von einander ziemlich entfernten Orten
auftreten und wurden von ihren Wählern dabei einem förmlich inquisitorischen
Verfahren unterworfen. Ihre Ansichten über Gott, Religion, Kirche, Familie,
Besitz, kurz Alles mußten die Candidaten beichten; es war als ob sie sich
mit Leib und Seele ihren Wählern ergeben sollten; und oft waren sie den
ärgsten persönlichen Beschimpfungen ausgesetzt. Thiers war der einzige, der
sich als bekannt genug voraussetzen durfte, um sich den persönlichen Anstren¬
gungen der Candidatur zu entziehen.

Was nun diese neue Kammer für eine Wirksamkeit haben wird, darüber
sind alle Vermuthungen unnütz; es fehlt ihr an einem Centrum; sie hat nur
Extremitäten, die eine durch ihre Masse bedeutend, die andere durch ihre Be¬
weglichkeit; sie wird Mühe haben in eine richtige stetige Bahn zu kommen.
Unklar ist vor Allem die Politik der neuen Opposition; als Ollivier Aussicht
auf ein Ministerium hatte, war sofort die Devise der Linken: "Mit dieser
Regierung kein Compromiß!" Ja! aber wie wollen die tapferen Kämpen sonst
etwas erreichen? Sie leiden an demselben Uebel, an dem ganz Frankreich


wenn sie Thiers nicht wiederwählten!" Thiers aber war sehr daran gelegen
wieder in die Kammer zu kommen, denn, sagte er ,M encors quelqaeg
xetitss euoses ä aire."

Und wer stand diesen erprobten Kämpfern gegenüber? D'Akkon-She'e, ein
Edelmann, von dem man nichts wußte, als daß er 1852 mit Morny auf
Du und Du stand und daß er sein ganzes Vermögen in Amerika verloren!
Raspail, der alte Störenfried, der durch seinen frevelhaften Einbruch in die
Nationalversammlung am 15. Mai 1848 einer der Urheber der Junitage wurde!
Rochefort endlich, ein unwissender Pamphletist von zweifelhaftem Geschmack,
der nichts liest, nichts lernt, aber in maßlosester Weise den Kaiser persönlich
angegriffen und beschimpft, hat! Und gerade deshalb, weil er so maßlos ge¬
wesen, ist er von den Arbeitern vorgeschlagen worden, wird er von ihnen auf
den Händen getragen. Und für wessen materielles Wohl hat der Kaiser besser
gesorgt als für das des vierten Standes? Rochefort's Candidatur war eine
unnütze und fehlerhafte Demonstration, aber als solche von Bedeutung. In
einem Wahlbezirke, den die Regierung bereits verloren gegeben hatte, kam
es nicht darauf an, energisch zu Protestiren (wie man es gegen eine unent¬
rinnbare Majorität gethan haben würde), sondern eine tüchtige Wahl zu
Stande zu bringen, und dazu taugte doch Rochefort nicht! Glücklicherweise
haben die Wähler des 7. Bezirks noch in letzter Stunde diese Einsicht ge¬
habt und die Ehre des Pariser bon Lens gerettet. Jules Favre's Brief an
sie war ein Muster von Adel und männlicher Würden

Die Stellung eines Pariser Candidaten war keine Sinekure; in der kurzen
Zeit, die von der Verfassung zu Wahlversammlungen eingeräumt wird, mußten
sie an demselben Tage oft an mehreren von einander ziemlich entfernten Orten
auftreten und wurden von ihren Wählern dabei einem förmlich inquisitorischen
Verfahren unterworfen. Ihre Ansichten über Gott, Religion, Kirche, Familie,
Besitz, kurz Alles mußten die Candidaten beichten; es war als ob sie sich
mit Leib und Seele ihren Wählern ergeben sollten; und oft waren sie den
ärgsten persönlichen Beschimpfungen ausgesetzt. Thiers war der einzige, der
sich als bekannt genug voraussetzen durfte, um sich den persönlichen Anstren¬
gungen der Candidatur zu entziehen.

Was nun diese neue Kammer für eine Wirksamkeit haben wird, darüber
sind alle Vermuthungen unnütz; es fehlt ihr an einem Centrum; sie hat nur
Extremitäten, die eine durch ihre Masse bedeutend, die andere durch ihre Be¬
weglichkeit; sie wird Mühe haben in eine richtige stetige Bahn zu kommen.
Unklar ist vor Allem die Politik der neuen Opposition; als Ollivier Aussicht
auf ein Ministerium hatte, war sofort die Devise der Linken: „Mit dieser
Regierung kein Compromiß!" Ja! aber wie wollen die tapferen Kämpen sonst
etwas erreichen? Sie leiden an demselben Uebel, an dem ganz Frankreich


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[0510] wenn sie Thiers nicht wiederwählten!" Thiers aber war sehr daran gelegen wieder in die Kammer zu kommen, denn, sagte er ,M encors quelqaeg xetitss euoses ä aire." Und wer stand diesen erprobten Kämpfern gegenüber? D'Akkon-She'e, ein Edelmann, von dem man nichts wußte, als daß er 1852 mit Morny auf Du und Du stand und daß er sein ganzes Vermögen in Amerika verloren! Raspail, der alte Störenfried, der durch seinen frevelhaften Einbruch in die Nationalversammlung am 15. Mai 1848 einer der Urheber der Junitage wurde! Rochefort endlich, ein unwissender Pamphletist von zweifelhaftem Geschmack, der nichts liest, nichts lernt, aber in maßlosester Weise den Kaiser persönlich angegriffen und beschimpft, hat! Und gerade deshalb, weil er so maßlos ge¬ wesen, ist er von den Arbeitern vorgeschlagen worden, wird er von ihnen auf den Händen getragen. Und für wessen materielles Wohl hat der Kaiser besser gesorgt als für das des vierten Standes? Rochefort's Candidatur war eine unnütze und fehlerhafte Demonstration, aber als solche von Bedeutung. In einem Wahlbezirke, den die Regierung bereits verloren gegeben hatte, kam es nicht darauf an, energisch zu Protestiren (wie man es gegen eine unent¬ rinnbare Majorität gethan haben würde), sondern eine tüchtige Wahl zu Stande zu bringen, und dazu taugte doch Rochefort nicht! Glücklicherweise haben die Wähler des 7. Bezirks noch in letzter Stunde diese Einsicht ge¬ habt und die Ehre des Pariser bon Lens gerettet. Jules Favre's Brief an sie war ein Muster von Adel und männlicher Würden Die Stellung eines Pariser Candidaten war keine Sinekure; in der kurzen Zeit, die von der Verfassung zu Wahlversammlungen eingeräumt wird, mußten sie an demselben Tage oft an mehreren von einander ziemlich entfernten Orten auftreten und wurden von ihren Wählern dabei einem förmlich inquisitorischen Verfahren unterworfen. Ihre Ansichten über Gott, Religion, Kirche, Familie, Besitz, kurz Alles mußten die Candidaten beichten; es war als ob sie sich mit Leib und Seele ihren Wählern ergeben sollten; und oft waren sie den ärgsten persönlichen Beschimpfungen ausgesetzt. Thiers war der einzige, der sich als bekannt genug voraussetzen durfte, um sich den persönlichen Anstren¬ gungen der Candidatur zu entziehen. Was nun diese neue Kammer für eine Wirksamkeit haben wird, darüber sind alle Vermuthungen unnütz; es fehlt ihr an einem Centrum; sie hat nur Extremitäten, die eine durch ihre Masse bedeutend, die andere durch ihre Be¬ weglichkeit; sie wird Mühe haben in eine richtige stetige Bahn zu kommen. Unklar ist vor Allem die Politik der neuen Opposition; als Ollivier Aussicht auf ein Ministerium hatte, war sofort die Devise der Linken: „Mit dieser Regierung kein Compromiß!" Ja! aber wie wollen die tapferen Kämpen sonst etwas erreichen? Sie leiden an demselben Uebel, an dem ganz Frankreich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/510>, abgerufen am 24.07.2024.