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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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lungen aufgeführt wurden, erlittene Schlappe konnte alles verderben, was
frühere Siege und dicke Bücher genutzt hatten.

Sodann wurden die unteren Stände den ganzen Winter über durch die
bekannten Versammlungen der Redoute, des Latte Noliöriz, des ?r6 a,ux
Llsros, der uns Rout?Leg,ra?c. in Athem gehalten. Das unvollkommene
Gesetz des 19. Januar hatte zwar nur sociale Fragen zu behandeln erlaubt
und politische Erörterungen ausgeschlossen; namentlich ist ja durch die Ver¬
fassung verboten, über diese zu discutiren. Aber durch alle mögliche Auswege
und Hinterthüren streifte man immer wieder auf politisches Gebiet hinüber,
und es hing wesentlich von der größeren oder geringeren Strenge des an¬
wesenden Polizeicommissairs ab, ob er Anstoß daran nehmen wollte oder
nicht. Was für unglaubliche Thorheiten, oft mit den besten Regungen und
Absichten vermischt, in diesen Versammlungen (in denen auch Frauen auf¬
traten; gerade ihre Reden waren die heftigsten!) vorgebracht wurden, ist be¬
kannt. Und wie wäre es anders möglich gewesen! Die aus Paris immer
mehr verdrängten Arbeiter, zu denen Niemand mit einem freien Worte hinab¬
steigen durfte, waren ihrer eigenen Unwissenheit, ihrem anwachsenden Grolle
überlassen, oder den gefährlichen Wühlereien gewissenloser Demagogen preis¬
gegeben, die ihnen vorhielten, wie sie, die immer unterdrückten, die eigent¬
lichen Herren des Landes, das wahre Volk seien. Welche Summe von un¬
klaren Gedanken und Wünschen aufgehäuft, zugleich welche tiefe sittliche
Corruption in diesen Ständen groß gezogen war, kam mit einem Male zum
Vorschein. Ein großer Fortschritt ist aber in den letzten Jahren von den
Arbeitern trotzdem gemacht worden; sie haben angefangen zu lesen, gern und
viel zu lesen. Man hat mit vollem Rechte die kleine Presse, die "vollendete
Albernheit" des ?edle Journal aufs härteste verurtheilt, aber ein Gutes haben
sie gehabt, das freilich nicht in der Absicht ihrer Gründer lag; sie haben die
unteren und untersten Stände eben daran gewöhnt, zu lesen; als nun der
"National 6e 1869" und andere politische Blätter aufkamen, die ebenfalls
zu nur 1 oder 2 Sous zu haben waren, da verlor das "?<zeit -lournal" seine
Leser tausendweise und jetzt ist der erste Schritt geschehen, der Arbeiter kauft
sich seine Zeitung ebenso gut wie der kleine Bürger: welche große Verant¬
wortlichkeit daher die liberale Presse trägt, leuchtet ein; es würde uns zu
weit abführen, genauer aus diese Lebensfrage einzugehen. Bücher wie die
Jules Simon's haben bei denen, von welchen sie handeln, ihren Eingang ge¬
funden und ihre Wirkung ist unermeßlich.

Ollivier's Buch machte seinen Autor, wie vorauszusehen war, noch mi߬
liebiger, und über die maßlose Eitelkeit*), die darin zur Schau getragen wird,



") Der Figaro meinte, das Erscheinen des Buchs sei verzögert worden, weil in der Druckerei
die großen ^ (^<z) ausgegangen wären!
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lungen aufgeführt wurden, erlittene Schlappe konnte alles verderben, was
frühere Siege und dicke Bücher genutzt hatten.

Sodann wurden die unteren Stände den ganzen Winter über durch die
bekannten Versammlungen der Redoute, des Latte Noliöriz, des ?r6 a,ux
Llsros, der uns Rout?Leg,ra?c. in Athem gehalten. Das unvollkommene
Gesetz des 19. Januar hatte zwar nur sociale Fragen zu behandeln erlaubt
und politische Erörterungen ausgeschlossen; namentlich ist ja durch die Ver¬
fassung verboten, über diese zu discutiren. Aber durch alle mögliche Auswege
und Hinterthüren streifte man immer wieder auf politisches Gebiet hinüber,
und es hing wesentlich von der größeren oder geringeren Strenge des an¬
wesenden Polizeicommissairs ab, ob er Anstoß daran nehmen wollte oder
nicht. Was für unglaubliche Thorheiten, oft mit den besten Regungen und
Absichten vermischt, in diesen Versammlungen (in denen auch Frauen auf¬
traten; gerade ihre Reden waren die heftigsten!) vorgebracht wurden, ist be¬
kannt. Und wie wäre es anders möglich gewesen! Die aus Paris immer
mehr verdrängten Arbeiter, zu denen Niemand mit einem freien Worte hinab¬
steigen durfte, waren ihrer eigenen Unwissenheit, ihrem anwachsenden Grolle
überlassen, oder den gefährlichen Wühlereien gewissenloser Demagogen preis¬
gegeben, die ihnen vorhielten, wie sie, die immer unterdrückten, die eigent¬
lichen Herren des Landes, das wahre Volk seien. Welche Summe von un¬
klaren Gedanken und Wünschen aufgehäuft, zugleich welche tiefe sittliche
Corruption in diesen Ständen groß gezogen war, kam mit einem Male zum
Vorschein. Ein großer Fortschritt ist aber in den letzten Jahren von den
Arbeitern trotzdem gemacht worden; sie haben angefangen zu lesen, gern und
viel zu lesen. Man hat mit vollem Rechte die kleine Presse, die „vollendete
Albernheit" des ?edle Journal aufs härteste verurtheilt, aber ein Gutes haben
sie gehabt, das freilich nicht in der Absicht ihrer Gründer lag; sie haben die
unteren und untersten Stände eben daran gewöhnt, zu lesen; als nun der
„National 6e 1869" und andere politische Blätter aufkamen, die ebenfalls
zu nur 1 oder 2 Sous zu haben waren, da verlor das „?<zeit -lournal" seine
Leser tausendweise und jetzt ist der erste Schritt geschehen, der Arbeiter kauft
sich seine Zeitung ebenso gut wie der kleine Bürger: welche große Verant¬
wortlichkeit daher die liberale Presse trägt, leuchtet ein; es würde uns zu
weit abführen, genauer aus diese Lebensfrage einzugehen. Bücher wie die
Jules Simon's haben bei denen, von welchen sie handeln, ihren Eingang ge¬
funden und ihre Wirkung ist unermeßlich.

Ollivier's Buch machte seinen Autor, wie vorauszusehen war, noch mi߬
liebiger, und über die maßlose Eitelkeit*), die darin zur Schau getragen wird,



") Der Figaro meinte, das Erscheinen des Buchs sei verzögert worden, weil in der Druckerei
die großen ^ (^<z) ausgegangen wären!
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[0507] lungen aufgeführt wurden, erlittene Schlappe konnte alles verderben, was frühere Siege und dicke Bücher genutzt hatten. Sodann wurden die unteren Stände den ganzen Winter über durch die bekannten Versammlungen der Redoute, des Latte Noliöriz, des ?r6 a,ux Llsros, der uns Rout?Leg,ra?c. in Athem gehalten. Das unvollkommene Gesetz des 19. Januar hatte zwar nur sociale Fragen zu behandeln erlaubt und politische Erörterungen ausgeschlossen; namentlich ist ja durch die Ver¬ fassung verboten, über diese zu discutiren. Aber durch alle mögliche Auswege und Hinterthüren streifte man immer wieder auf politisches Gebiet hinüber, und es hing wesentlich von der größeren oder geringeren Strenge des an¬ wesenden Polizeicommissairs ab, ob er Anstoß daran nehmen wollte oder nicht. Was für unglaubliche Thorheiten, oft mit den besten Regungen und Absichten vermischt, in diesen Versammlungen (in denen auch Frauen auf¬ traten; gerade ihre Reden waren die heftigsten!) vorgebracht wurden, ist be¬ kannt. Und wie wäre es anders möglich gewesen! Die aus Paris immer mehr verdrängten Arbeiter, zu denen Niemand mit einem freien Worte hinab¬ steigen durfte, waren ihrer eigenen Unwissenheit, ihrem anwachsenden Grolle überlassen, oder den gefährlichen Wühlereien gewissenloser Demagogen preis¬ gegeben, die ihnen vorhielten, wie sie, die immer unterdrückten, die eigent¬ lichen Herren des Landes, das wahre Volk seien. Welche Summe von un¬ klaren Gedanken und Wünschen aufgehäuft, zugleich welche tiefe sittliche Corruption in diesen Ständen groß gezogen war, kam mit einem Male zum Vorschein. Ein großer Fortschritt ist aber in den letzten Jahren von den Arbeitern trotzdem gemacht worden; sie haben angefangen zu lesen, gern und viel zu lesen. Man hat mit vollem Rechte die kleine Presse, die „vollendete Albernheit" des ?edle Journal aufs härteste verurtheilt, aber ein Gutes haben sie gehabt, das freilich nicht in der Absicht ihrer Gründer lag; sie haben die unteren und untersten Stände eben daran gewöhnt, zu lesen; als nun der „National 6e 1869" und andere politische Blätter aufkamen, die ebenfalls zu nur 1 oder 2 Sous zu haben waren, da verlor das „?<zeit -lournal" seine Leser tausendweise und jetzt ist der erste Schritt geschehen, der Arbeiter kauft sich seine Zeitung ebenso gut wie der kleine Bürger: welche große Verant¬ wortlichkeit daher die liberale Presse trägt, leuchtet ein; es würde uns zu weit abführen, genauer aus diese Lebensfrage einzugehen. Bücher wie die Jules Simon's haben bei denen, von welchen sie handeln, ihren Eingang ge¬ funden und ihre Wirkung ist unermeßlich. Ollivier's Buch machte seinen Autor, wie vorauszusehen war, noch mi߬ liebiger, und über die maßlose Eitelkeit*), die darin zur Schau getragen wird, ") Der Figaro meinte, das Erscheinen des Buchs sei verzögert worden, weil in der Druckerei die großen ^ (^<z) ausgegangen wären! 63*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/507>, abgerufen am 24.07.2024.