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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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unserer Frauenwelt finden. So unhöflich es klingt, aber mir ist selten in
Deutschland unter den gebildeten Ständen ein auffälligerer Mangel an Geist
und Gemüth, verinnerlichten Interesse für Kunst, Poesie oder schöne Literatur
begegnet, wie unter den Frauen Schleswig-Holsteins. Ein grobschlächtiger
Materialismus, der endemisch hier das geistige Leben der gebildeten Classen
beherrscht, spiegelt sich unschön in den Lebensgewohnheiten und Bedürfnissen
des schwächeren Geschlechtes ab. Es ist ganz erstaunlich, wie gut ein tüch¬
tiger gesunder Menschenverstand, Kenntniß fremder Länder und Menschen,
praktische Weltklugheit und Erfahrung neben einer Verkümmerung aller höheren
geistigen Interessen einhergehen können. Auch mit der eigentlich gelehrten
Bildung ist es schlecht bestellt. Der hervorragendste Platz ist unbedingt
den Aerzten einzuräumen, die in der Wissenschaft, wie in der Praxis ihres
Fachs keinen Vergleich mit ihren Berufsgenossen außerhalb zu scheuen haben.
Desto ungünstiger würden bei solchem Vergleich die anderen Facultäten fahren,
vor allem die theologische und die juristische. Die Philologen sind durch
ihre altherkömmliche Freizügigkeit im Provincialtypus weniger kenntlich. Aber
ein engherzigeres, beschränkteres Lutherthum, und ein handwerksmäßigerer
Geschäftsbetrieb, als unter den Geistlichen und Juristen hier zu Lande
grassirt, sie sind sonst wohl nur noch in Mecklenburg zu Hause. Selbständiges
Studium der Quellen, Kenntniß der Literatur, Durchdringen der wissenschast-
lichen Methode, Beherrschung der technischen Form wird man bei dem Durch¬
schnitt der richterlichen Beamten im landrechtlichen Altpreußen in viel höherem
Grade entwickelt finden, als auf diesem günstigen Boden des gemeinen Rechts.
Die Hülfswissenschaften, auf die der heutige Jurist so dringend angewiesen
ist, Nationalökonomie, die politischen und socialen Doctrinen liegen gänzlich
brach. Hierin aber kann erst Wandel eintreten, wenn der nothwendige, jetzt
noch ganz fehlende Austausch im Beamtenthum und den gebildeten Elementen
überhaupt zwischen Schleswig-Holstein und den anderen Provinzen des Staates
stattfindet, und vor Allem, wenn die Universität Kiel aufgehört hat der
jüngeren Generation ihren eigenthümlichen Stempel aufzudrücken. Daß die
jungen Leute nicht mehr, wie früher, verpflichtet sind, zwei Jahre ihres
Studiums in Kiel zuzubringen ist schon Gewinn. Besser wäre es, sie würden
der Versuchung, aus Bequemlichkeit, Sparsamkeit, oder landsmannschaft¬
lichem Interesse in Kiel zu studiren, überhaupt enthoben. Die von den
..Grenzboten" zuerst angeregte Frage einer Verlegung der Universität von
Kiel nach Hamburg kann, glaube ich, nur nach der einen Seite zu ernsthaften
Meinungsverschiedenheiten Anlaß geben, ob gerade Hamburg sich dazu eignet,
der Wissenschaft und ihren Jüngeren als Pflanzstätte zu dienen. Daß
Kiel dazu nicht, oder nicht mehr angethan ist, scheint mir außer allem
Zweifel zu liegen. Fern ab von allen Mittelpunkten und Brennpunkten des


unserer Frauenwelt finden. So unhöflich es klingt, aber mir ist selten in
Deutschland unter den gebildeten Ständen ein auffälligerer Mangel an Geist
und Gemüth, verinnerlichten Interesse für Kunst, Poesie oder schöne Literatur
begegnet, wie unter den Frauen Schleswig-Holsteins. Ein grobschlächtiger
Materialismus, der endemisch hier das geistige Leben der gebildeten Classen
beherrscht, spiegelt sich unschön in den Lebensgewohnheiten und Bedürfnissen
des schwächeren Geschlechtes ab. Es ist ganz erstaunlich, wie gut ein tüch¬
tiger gesunder Menschenverstand, Kenntniß fremder Länder und Menschen,
praktische Weltklugheit und Erfahrung neben einer Verkümmerung aller höheren
geistigen Interessen einhergehen können. Auch mit der eigentlich gelehrten
Bildung ist es schlecht bestellt. Der hervorragendste Platz ist unbedingt
den Aerzten einzuräumen, die in der Wissenschaft, wie in der Praxis ihres
Fachs keinen Vergleich mit ihren Berufsgenossen außerhalb zu scheuen haben.
Desto ungünstiger würden bei solchem Vergleich die anderen Facultäten fahren,
vor allem die theologische und die juristische. Die Philologen sind durch
ihre altherkömmliche Freizügigkeit im Provincialtypus weniger kenntlich. Aber
ein engherzigeres, beschränkteres Lutherthum, und ein handwerksmäßigerer
Geschäftsbetrieb, als unter den Geistlichen und Juristen hier zu Lande
grassirt, sie sind sonst wohl nur noch in Mecklenburg zu Hause. Selbständiges
Studium der Quellen, Kenntniß der Literatur, Durchdringen der wissenschast-
lichen Methode, Beherrschung der technischen Form wird man bei dem Durch¬
schnitt der richterlichen Beamten im landrechtlichen Altpreußen in viel höherem
Grade entwickelt finden, als auf diesem günstigen Boden des gemeinen Rechts.
Die Hülfswissenschaften, auf die der heutige Jurist so dringend angewiesen
ist, Nationalökonomie, die politischen und socialen Doctrinen liegen gänzlich
brach. Hierin aber kann erst Wandel eintreten, wenn der nothwendige, jetzt
noch ganz fehlende Austausch im Beamtenthum und den gebildeten Elementen
überhaupt zwischen Schleswig-Holstein und den anderen Provinzen des Staates
stattfindet, und vor Allem, wenn die Universität Kiel aufgehört hat der
jüngeren Generation ihren eigenthümlichen Stempel aufzudrücken. Daß die
jungen Leute nicht mehr, wie früher, verpflichtet sind, zwei Jahre ihres
Studiums in Kiel zuzubringen ist schon Gewinn. Besser wäre es, sie würden
der Versuchung, aus Bequemlichkeit, Sparsamkeit, oder landsmannschaft¬
lichem Interesse in Kiel zu studiren, überhaupt enthoben. Die von den
..Grenzboten" zuerst angeregte Frage einer Verlegung der Universität von
Kiel nach Hamburg kann, glaube ich, nur nach der einen Seite zu ernsthaften
Meinungsverschiedenheiten Anlaß geben, ob gerade Hamburg sich dazu eignet,
der Wissenschaft und ihren Jüngeren als Pflanzstätte zu dienen. Daß
Kiel dazu nicht, oder nicht mehr angethan ist, scheint mir außer allem
Zweifel zu liegen. Fern ab von allen Mittelpunkten und Brennpunkten des


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[0504] unserer Frauenwelt finden. So unhöflich es klingt, aber mir ist selten in Deutschland unter den gebildeten Ständen ein auffälligerer Mangel an Geist und Gemüth, verinnerlichten Interesse für Kunst, Poesie oder schöne Literatur begegnet, wie unter den Frauen Schleswig-Holsteins. Ein grobschlächtiger Materialismus, der endemisch hier das geistige Leben der gebildeten Classen beherrscht, spiegelt sich unschön in den Lebensgewohnheiten und Bedürfnissen des schwächeren Geschlechtes ab. Es ist ganz erstaunlich, wie gut ein tüch¬ tiger gesunder Menschenverstand, Kenntniß fremder Länder und Menschen, praktische Weltklugheit und Erfahrung neben einer Verkümmerung aller höheren geistigen Interessen einhergehen können. Auch mit der eigentlich gelehrten Bildung ist es schlecht bestellt. Der hervorragendste Platz ist unbedingt den Aerzten einzuräumen, die in der Wissenschaft, wie in der Praxis ihres Fachs keinen Vergleich mit ihren Berufsgenossen außerhalb zu scheuen haben. Desto ungünstiger würden bei solchem Vergleich die anderen Facultäten fahren, vor allem die theologische und die juristische. Die Philologen sind durch ihre altherkömmliche Freizügigkeit im Provincialtypus weniger kenntlich. Aber ein engherzigeres, beschränkteres Lutherthum, und ein handwerksmäßigerer Geschäftsbetrieb, als unter den Geistlichen und Juristen hier zu Lande grassirt, sie sind sonst wohl nur noch in Mecklenburg zu Hause. Selbständiges Studium der Quellen, Kenntniß der Literatur, Durchdringen der wissenschast- lichen Methode, Beherrschung der technischen Form wird man bei dem Durch¬ schnitt der richterlichen Beamten im landrechtlichen Altpreußen in viel höherem Grade entwickelt finden, als auf diesem günstigen Boden des gemeinen Rechts. Die Hülfswissenschaften, auf die der heutige Jurist so dringend angewiesen ist, Nationalökonomie, die politischen und socialen Doctrinen liegen gänzlich brach. Hierin aber kann erst Wandel eintreten, wenn der nothwendige, jetzt noch ganz fehlende Austausch im Beamtenthum und den gebildeten Elementen überhaupt zwischen Schleswig-Holstein und den anderen Provinzen des Staates stattfindet, und vor Allem, wenn die Universität Kiel aufgehört hat der jüngeren Generation ihren eigenthümlichen Stempel aufzudrücken. Daß die jungen Leute nicht mehr, wie früher, verpflichtet sind, zwei Jahre ihres Studiums in Kiel zuzubringen ist schon Gewinn. Besser wäre es, sie würden der Versuchung, aus Bequemlichkeit, Sparsamkeit, oder landsmannschaft¬ lichem Interesse in Kiel zu studiren, überhaupt enthoben. Die von den ..Grenzboten" zuerst angeregte Frage einer Verlegung der Universität von Kiel nach Hamburg kann, glaube ich, nur nach der einen Seite zu ernsthaften Meinungsverschiedenheiten Anlaß geben, ob gerade Hamburg sich dazu eignet, der Wissenschaft und ihren Jüngeren als Pflanzstätte zu dienen. Daß Kiel dazu nicht, oder nicht mehr angethan ist, scheint mir außer allem Zweifel zu liegen. Fern ab von allen Mittelpunkten und Brennpunkten des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/504>, abgerufen am 25.07.2024.