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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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und daß man in Berlin einsehen lernt, das Maß der durch den Umschwung
von 1866 nothwendig geforderten Opfer sei groß genug, als daß diese
ohne ernsten Schaden durch Forderungen gouvernementaler Bequemlichkeit
und ministeriellen Vorurtheils erhöht werden dürsten.




Aus Schleswigsolstein.

Sie wünschen, so schreiben Sie mir, bald einmal wieder etwas von
Ihrem Korrespondenten aus Schleswig-Holstein zu Hörers Wenn doch auch
in solchen gegenseitigen Beziehungen "der Wunsch des Gedankens Vater"
sein könnte -- das Schreiben von hier aus würde mir sicherlich um vieles
behender von der Hand gehen. Es ist heutzutage unter der Fülle großer
und kleiner Tagesereignisse, mit denen die Zeitungen sich und uns ernähren,
an sich schon ein Stück Arbeit der Abstraction und Beobachtung nöthig, in
Zusammenfassung des Wesentlichen einem gewissen Kalender-Zeitabschnitt die
charakteristische Signatur aufzuprägen. Wie viel mehr Mühe muß sich der
Provinzbewohner geben, der in seinem beschränkten Bereich nicht einmal jene
ephemeren Ereignisse als Stoff und Anregung für eine periodische Korrespondenz
zu verwerthen vermag! Denn daß sich hier zu Lande in den Monaten, die
seit meinem letzten Bericht verflossen sind, absolut gar nichts hat ereignen
wollen, was über das dürftigste locale Interesse hinausgegangen wäre, selbst
dies wird ihnen keine mittheilenswerthe Neuigkeit sein. Wollen Sie es mir
hiernach verargen, wenn ich an jene allgemeinen Betrachtungen wieder an¬
zuknüpfen geneigt bin, mit denen ich vor fast Jahresfrist für die grünen
Blätter zu correspondiren anfing? Was mich damals am meisten interessirte,
die Formen und der Geist preußischer Politik, die jetzt hier an der inneren
Annexion arbeiten, ist es nicht auch heute noch der dankenswertheste Stoff?

Wenn Preußen einmal durch ein thatsächliches Experiment an einem
großen lebenden Körper der Welt beweisen wollte, welche unverwüstliche
Kraft seiner Justiz und welche Impotenz seiner gegenwärtigen Administration
innewohnt, so kann es sich auf Schleswig-Holstein berufen. Mir ist's noch
täglich ein Gegenstand des Erstaunens und der Bewunderung, unsere Ge¬
richtsorganisation zu beobachten, wie sicher und fest etablirt sie nach so un¬
endlich kurzer Zeit dasteht, wie schnell Land und Leute sich in sie hinein¬
gelebt haben. Unsere Amts- und Kreisgerichte, Schöffen- und Schwur¬
gerichte, die ganze Maschinerie des Civil- und Strafprocesses, all' das functio-


und daß man in Berlin einsehen lernt, das Maß der durch den Umschwung
von 1866 nothwendig geforderten Opfer sei groß genug, als daß diese
ohne ernsten Schaden durch Forderungen gouvernementaler Bequemlichkeit
und ministeriellen Vorurtheils erhöht werden dürsten.




Aus Schleswigsolstein.

Sie wünschen, so schreiben Sie mir, bald einmal wieder etwas von
Ihrem Korrespondenten aus Schleswig-Holstein zu Hörers Wenn doch auch
in solchen gegenseitigen Beziehungen „der Wunsch des Gedankens Vater"
sein könnte — das Schreiben von hier aus würde mir sicherlich um vieles
behender von der Hand gehen. Es ist heutzutage unter der Fülle großer
und kleiner Tagesereignisse, mit denen die Zeitungen sich und uns ernähren,
an sich schon ein Stück Arbeit der Abstraction und Beobachtung nöthig, in
Zusammenfassung des Wesentlichen einem gewissen Kalender-Zeitabschnitt die
charakteristische Signatur aufzuprägen. Wie viel mehr Mühe muß sich der
Provinzbewohner geben, der in seinem beschränkten Bereich nicht einmal jene
ephemeren Ereignisse als Stoff und Anregung für eine periodische Korrespondenz
zu verwerthen vermag! Denn daß sich hier zu Lande in den Monaten, die
seit meinem letzten Bericht verflossen sind, absolut gar nichts hat ereignen
wollen, was über das dürftigste locale Interesse hinausgegangen wäre, selbst
dies wird ihnen keine mittheilenswerthe Neuigkeit sein. Wollen Sie es mir
hiernach verargen, wenn ich an jene allgemeinen Betrachtungen wieder an¬
zuknüpfen geneigt bin, mit denen ich vor fast Jahresfrist für die grünen
Blätter zu correspondiren anfing? Was mich damals am meisten interessirte,
die Formen und der Geist preußischer Politik, die jetzt hier an der inneren
Annexion arbeiten, ist es nicht auch heute noch der dankenswertheste Stoff?

Wenn Preußen einmal durch ein thatsächliches Experiment an einem
großen lebenden Körper der Welt beweisen wollte, welche unverwüstliche
Kraft seiner Justiz und welche Impotenz seiner gegenwärtigen Administration
innewohnt, so kann es sich auf Schleswig-Holstein berufen. Mir ist's noch
täglich ein Gegenstand des Erstaunens und der Bewunderung, unsere Ge¬
richtsorganisation zu beobachten, wie sicher und fest etablirt sie nach so un¬
endlich kurzer Zeit dasteht, wie schnell Land und Leute sich in sie hinein¬
gelebt haben. Unsere Amts- und Kreisgerichte, Schöffen- und Schwur¬
gerichte, die ganze Maschinerie des Civil- und Strafprocesses, all' das functio-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/501>, abgerufen am 04.07.2024.