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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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Gebiete der Rechtspflege, daß buchstäblich genommen am 1. September, wo
dieselben in Kraft treten sollten, in Kurhessen Niemand wußte, was Rech¬
tens war. Erst allmälig konnte man den ganzen Schaden überblicken, der in
Folge der Eile und mangelhaften Kenntniß des hessischen Rechtszustandes hier
angerichtet worden war. Die Verordnungen waren theilweise aus "ltpreußischen
Gesetzen einfach abgeschrieben und paßten nicht vollständig auf andere Sach¬
verhältnisse, zum Theil waren sie auch den hessischen Juristen in ihren Aus¬
drücken dunkel und mißverständlich. Oft setzten sie eine genaue Kenntniß des
preußischen Rechtes zu ihrem Verständnisse voraus, die man sich doch nicht
innerhalb weniger Tage, wo man Tausende von Gesetzesparagraphen zu studi-
ren hatte, noch nebenbei aneignen konnte. Oft wurde einfach auf die Vor¬
schriften im Geltungsgebiete des preußischen Landrechts oder auf preußische
Gesetze von dem und dem Datum Bezug genommen, während in Hessen die
preußischen Gesetzsammlungen bis dahin wenig verbreitet und kaum zugänglich
waren. Die Eile, mit der man zu Werke ging, war so groß, daß noch am
30. August eine Verordnung über die Gerichts- und Anwaltskosten erlassen
wurde, die am 1. September in Kraft treten sollte, während die betreffende
Nummer des Gesetzblattes erst am 5. September in Berlin ausgegeben wurde
und noch mehrere Tage später in das Land gelangte. Die Form derselben
war noch dazu so corrupt, daß erst eine anderweitige officielle Ausgabe der
Kostenbestimmungen veranstaltet werden mußte. Das Strafgesetzbuch nebst
einer großen Anzahl von Strafgesetzen wurde ebenfalls nicht förmlich publi-
cirt, sondern nur durch Bezugnahme auf die altpreußischen Bestimmungen in
Kraft gesetzt. Von der Ausgabe des betreffenden Gesetzblattes bis zur Jnkraft-
tretung seiner Bestimmungen wurde der Bevölkerung kaum mehr als vier
Wochen Zeit gelassen, um sich mit den neuen Strafbestimmungen bekannt zu
machen. Abgesehen von dieser durch Nichts gebotenen Eile war bei dem
oben geschilderten Zustande unserer Strafgesetzgebung die Einführung des in
den alten Provinzen geltenden materiellen Strafrechts trotz dessen unverkenn¬
baren großen Härten immerhin noch am Ersten zu ertragen, zumal sich hier
doch gute Gründe dafür anführen ließen.

Man kann die Wirkung dieser Berliner Gesetzesfabrieation auf unseren
juristischen Beamtenstand und das rechtsuchende Publicum, sowohl was die
unmittelbaren nothwendigen Folgen als was den allgemeinen Eindruck derselben
betrifft, nicht drastisch genug darstellen. Zweifel und Bedenken schössen bei
dem Studium der Verordnungen unter den Richtern und Anwälten wie
Pilze aus der Erde. Es trat eine allgemeine Rechtsverwirrung und Un¬
sicherheit ein, wie sie in althessischem Zeiten nach allen Justizreformen nie
eingerissen war, da man hier stets für zeitige, genügende Bekanntmachung,
für ausreichende Jnstructionen und das nöthige Personal gesorgt hatte.


Gebiete der Rechtspflege, daß buchstäblich genommen am 1. September, wo
dieselben in Kraft treten sollten, in Kurhessen Niemand wußte, was Rech¬
tens war. Erst allmälig konnte man den ganzen Schaden überblicken, der in
Folge der Eile und mangelhaften Kenntniß des hessischen Rechtszustandes hier
angerichtet worden war. Die Verordnungen waren theilweise aus «ltpreußischen
Gesetzen einfach abgeschrieben und paßten nicht vollständig auf andere Sach¬
verhältnisse, zum Theil waren sie auch den hessischen Juristen in ihren Aus¬
drücken dunkel und mißverständlich. Oft setzten sie eine genaue Kenntniß des
preußischen Rechtes zu ihrem Verständnisse voraus, die man sich doch nicht
innerhalb weniger Tage, wo man Tausende von Gesetzesparagraphen zu studi-
ren hatte, noch nebenbei aneignen konnte. Oft wurde einfach auf die Vor¬
schriften im Geltungsgebiete des preußischen Landrechts oder auf preußische
Gesetze von dem und dem Datum Bezug genommen, während in Hessen die
preußischen Gesetzsammlungen bis dahin wenig verbreitet und kaum zugänglich
waren. Die Eile, mit der man zu Werke ging, war so groß, daß noch am
30. August eine Verordnung über die Gerichts- und Anwaltskosten erlassen
wurde, die am 1. September in Kraft treten sollte, während die betreffende
Nummer des Gesetzblattes erst am 5. September in Berlin ausgegeben wurde
und noch mehrere Tage später in das Land gelangte. Die Form derselben
war noch dazu so corrupt, daß erst eine anderweitige officielle Ausgabe der
Kostenbestimmungen veranstaltet werden mußte. Das Strafgesetzbuch nebst
einer großen Anzahl von Strafgesetzen wurde ebenfalls nicht förmlich publi-
cirt, sondern nur durch Bezugnahme auf die altpreußischen Bestimmungen in
Kraft gesetzt. Von der Ausgabe des betreffenden Gesetzblattes bis zur Jnkraft-
tretung seiner Bestimmungen wurde der Bevölkerung kaum mehr als vier
Wochen Zeit gelassen, um sich mit den neuen Strafbestimmungen bekannt zu
machen. Abgesehen von dieser durch Nichts gebotenen Eile war bei dem
oben geschilderten Zustande unserer Strafgesetzgebung die Einführung des in
den alten Provinzen geltenden materiellen Strafrechts trotz dessen unverkenn¬
baren großen Härten immerhin noch am Ersten zu ertragen, zumal sich hier
doch gute Gründe dafür anführen ließen.

Man kann die Wirkung dieser Berliner Gesetzesfabrieation auf unseren
juristischen Beamtenstand und das rechtsuchende Publicum, sowohl was die
unmittelbaren nothwendigen Folgen als was den allgemeinen Eindruck derselben
betrifft, nicht drastisch genug darstellen. Zweifel und Bedenken schössen bei
dem Studium der Verordnungen unter den Richtern und Anwälten wie
Pilze aus der Erde. Es trat eine allgemeine Rechtsverwirrung und Un¬
sicherheit ein, wie sie in althessischem Zeiten nach allen Justizreformen nie
eingerissen war, da man hier stets für zeitige, genügende Bekanntmachung,
für ausreichende Jnstructionen und das nöthige Personal gesorgt hatte.


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[0498] Gebiete der Rechtspflege, daß buchstäblich genommen am 1. September, wo dieselben in Kraft treten sollten, in Kurhessen Niemand wußte, was Rech¬ tens war. Erst allmälig konnte man den ganzen Schaden überblicken, der in Folge der Eile und mangelhaften Kenntniß des hessischen Rechtszustandes hier angerichtet worden war. Die Verordnungen waren theilweise aus «ltpreußischen Gesetzen einfach abgeschrieben und paßten nicht vollständig auf andere Sach¬ verhältnisse, zum Theil waren sie auch den hessischen Juristen in ihren Aus¬ drücken dunkel und mißverständlich. Oft setzten sie eine genaue Kenntniß des preußischen Rechtes zu ihrem Verständnisse voraus, die man sich doch nicht innerhalb weniger Tage, wo man Tausende von Gesetzesparagraphen zu studi- ren hatte, noch nebenbei aneignen konnte. Oft wurde einfach auf die Vor¬ schriften im Geltungsgebiete des preußischen Landrechts oder auf preußische Gesetze von dem und dem Datum Bezug genommen, während in Hessen die preußischen Gesetzsammlungen bis dahin wenig verbreitet und kaum zugänglich waren. Die Eile, mit der man zu Werke ging, war so groß, daß noch am 30. August eine Verordnung über die Gerichts- und Anwaltskosten erlassen wurde, die am 1. September in Kraft treten sollte, während die betreffende Nummer des Gesetzblattes erst am 5. September in Berlin ausgegeben wurde und noch mehrere Tage später in das Land gelangte. Die Form derselben war noch dazu so corrupt, daß erst eine anderweitige officielle Ausgabe der Kostenbestimmungen veranstaltet werden mußte. Das Strafgesetzbuch nebst einer großen Anzahl von Strafgesetzen wurde ebenfalls nicht förmlich publi- cirt, sondern nur durch Bezugnahme auf die altpreußischen Bestimmungen in Kraft gesetzt. Von der Ausgabe des betreffenden Gesetzblattes bis zur Jnkraft- tretung seiner Bestimmungen wurde der Bevölkerung kaum mehr als vier Wochen Zeit gelassen, um sich mit den neuen Strafbestimmungen bekannt zu machen. Abgesehen von dieser durch Nichts gebotenen Eile war bei dem oben geschilderten Zustande unserer Strafgesetzgebung die Einführung des in den alten Provinzen geltenden materiellen Strafrechts trotz dessen unverkenn¬ baren großen Härten immerhin noch am Ersten zu ertragen, zumal sich hier doch gute Gründe dafür anführen ließen. Man kann die Wirkung dieser Berliner Gesetzesfabrieation auf unseren juristischen Beamtenstand und das rechtsuchende Publicum, sowohl was die unmittelbaren nothwendigen Folgen als was den allgemeinen Eindruck derselben betrifft, nicht drastisch genug darstellen. Zweifel und Bedenken schössen bei dem Studium der Verordnungen unter den Richtern und Anwälten wie Pilze aus der Erde. Es trat eine allgemeine Rechtsverwirrung und Un¬ sicherheit ein, wie sie in althessischem Zeiten nach allen Justizreformen nie eingerissen war, da man hier stets für zeitige, genügende Bekanntmachung, für ausreichende Jnstructionen und das nöthige Personal gesorgt hatte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/498>, abgerufen am 04.07.2024.