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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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die gleiche mechanische Verbindung volkstümlicher Formen, sei es des Par¬
laments, sei es des Selfgovernments mit der unberührt gebliebenen Ord¬
nung des monarchischen Staatsabsolutismus. Wie unser Parlamentarismus
zusammenhangslos über unserem Verwaltungsrechte schwebt, so treibt sich
unser Geschwornengericht unstät in unserer Gerichtsverfassung umher. Alles,
was der englischen Jury als natürlicher Boden, reichliche Ergänzung und
Voraussetzung dient, das Friedensrichteramt, die Selbstverwaltung des Graf¬
schaftsverbandes, Privatklage und Anklagejury, die ständige Mitwirkung der
Gemeindegenossen im Civil- wie im Strafproceß, fehlt dem deutschen Ge¬
schwornengerichte vollständig, In der grundsätzlich auf überallhin verzweigten
staatlichen Gerichtshöfen und deren wissenschaftlicher Rechtsübung ruhenden
Civil- wie Strafproceßordnung fristet die deutsche Jury eine höchst kümmer¬
liche Scheinexistenz, als periodisch beliebtes populäres Dekorationsstück. Durch
eine Reihe ziemlich complicirter Verwaltungsoperationen und allerlei Filte¬
rungen werden von Zeit zu Zeit einige Bürger von den Staatsbehörden
dazu herangezogen, bei der Aburtheilung gewisser Kategorien von Verbrechen
als Vertreter volkstümlicher Rechtsüberzeugung eine gewisse Mitwirkung zu
üben. Wie diese Mitwirkung am Besten einzurichten, ohne die Interessen
der staatlichen Strafrechtspflege zu gefährden, darüber haben wir dann ver¬
schiedene "Systeme" in der Theorie, und vielerlei Experimente in der legis¬
lativen Praxis durchgemacht. Allen aber ist gemeinsam, an der unumstö߬
lichen Voraussetzung festzuhalten, daß die Jury eine absonderliche, exceptio¬
nelle Einrichtung für die Hauptverhandlung auserlesener Criminalfälle
sei und bleiben müsse, ein künstliches Anhängsel der ordentlichen Gerichts¬
barkeit. Die jüngsten strafprocessualischen Elaborate Preußens, Sachsens,
Oestreichs stehen darin vollkommen auf demselben Boden.

So ist es denn von vornherein verkehrt, statt von unten zu arbeiten, an
der Fundamentirung der deutschen Jury, ihre organischen Grundlagen zu
kräftigen und zu erweitern, den Grundsatz der Ueoertragung richterlicher
Funktionen auf die Gemeindegenossen in vollster Entwickelung zum leitenden
der gesammten Gerichtsverfassung zu erheben--statt alles dessen in weiterer
Zuspitzung unseres SchwurgerichiSapparats nur auf die Uebertragung noch
einiger neuer Kategorien von Delieten auf diese künstliche Spitze zu sinnen.
Dadurch werden die Uebelstände eines verfehlten Instituts nur weiter ver¬
pflanzt, die Gerichtsverfassung durch Vermehrung der im Verfahren privile-
girten strafbaren Handlungen noch unförmlicher gestaltet und die Gewöhnung
des Volks, in dem etwa alle zwei Jahre einmal wiederkehrenden Zuhören
und Abstimmen bei irgend einem interessanten Criminalfall das Wesen volks-
thümlicher Rechtsübung zu erblicken, nur befestigt.

Und was ist das nun für eine verschwommene neue Kategorie, die der


die gleiche mechanische Verbindung volkstümlicher Formen, sei es des Par¬
laments, sei es des Selfgovernments mit der unberührt gebliebenen Ord¬
nung des monarchischen Staatsabsolutismus. Wie unser Parlamentarismus
zusammenhangslos über unserem Verwaltungsrechte schwebt, so treibt sich
unser Geschwornengericht unstät in unserer Gerichtsverfassung umher. Alles,
was der englischen Jury als natürlicher Boden, reichliche Ergänzung und
Voraussetzung dient, das Friedensrichteramt, die Selbstverwaltung des Graf¬
schaftsverbandes, Privatklage und Anklagejury, die ständige Mitwirkung der
Gemeindegenossen im Civil- wie im Strafproceß, fehlt dem deutschen Ge¬
schwornengerichte vollständig, In der grundsätzlich auf überallhin verzweigten
staatlichen Gerichtshöfen und deren wissenschaftlicher Rechtsübung ruhenden
Civil- wie Strafproceßordnung fristet die deutsche Jury eine höchst kümmer¬
liche Scheinexistenz, als periodisch beliebtes populäres Dekorationsstück. Durch
eine Reihe ziemlich complicirter Verwaltungsoperationen und allerlei Filte¬
rungen werden von Zeit zu Zeit einige Bürger von den Staatsbehörden
dazu herangezogen, bei der Aburtheilung gewisser Kategorien von Verbrechen
als Vertreter volkstümlicher Rechtsüberzeugung eine gewisse Mitwirkung zu
üben. Wie diese Mitwirkung am Besten einzurichten, ohne die Interessen
der staatlichen Strafrechtspflege zu gefährden, darüber haben wir dann ver¬
schiedene „Systeme" in der Theorie, und vielerlei Experimente in der legis¬
lativen Praxis durchgemacht. Allen aber ist gemeinsam, an der unumstö߬
lichen Voraussetzung festzuhalten, daß die Jury eine absonderliche, exceptio¬
nelle Einrichtung für die Hauptverhandlung auserlesener Criminalfälle
sei und bleiben müsse, ein künstliches Anhängsel der ordentlichen Gerichts¬
barkeit. Die jüngsten strafprocessualischen Elaborate Preußens, Sachsens,
Oestreichs stehen darin vollkommen auf demselben Boden.

So ist es denn von vornherein verkehrt, statt von unten zu arbeiten, an
der Fundamentirung der deutschen Jury, ihre organischen Grundlagen zu
kräftigen und zu erweitern, den Grundsatz der Ueoertragung richterlicher
Funktionen auf die Gemeindegenossen in vollster Entwickelung zum leitenden
der gesammten Gerichtsverfassung zu erheben—statt alles dessen in weiterer
Zuspitzung unseres SchwurgerichiSapparats nur auf die Uebertragung noch
einiger neuer Kategorien von Delieten auf diese künstliche Spitze zu sinnen.
Dadurch werden die Uebelstände eines verfehlten Instituts nur weiter ver¬
pflanzt, die Gerichtsverfassung durch Vermehrung der im Verfahren privile-
girten strafbaren Handlungen noch unförmlicher gestaltet und die Gewöhnung
des Volks, in dem etwa alle zwei Jahre einmal wiederkehrenden Zuhören
und Abstimmen bei irgend einem interessanten Criminalfall das Wesen volks-
thümlicher Rechtsübung zu erblicken, nur befestigt.

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[0410] die gleiche mechanische Verbindung volkstümlicher Formen, sei es des Par¬ laments, sei es des Selfgovernments mit der unberührt gebliebenen Ord¬ nung des monarchischen Staatsabsolutismus. Wie unser Parlamentarismus zusammenhangslos über unserem Verwaltungsrechte schwebt, so treibt sich unser Geschwornengericht unstät in unserer Gerichtsverfassung umher. Alles, was der englischen Jury als natürlicher Boden, reichliche Ergänzung und Voraussetzung dient, das Friedensrichteramt, die Selbstverwaltung des Graf¬ schaftsverbandes, Privatklage und Anklagejury, die ständige Mitwirkung der Gemeindegenossen im Civil- wie im Strafproceß, fehlt dem deutschen Ge¬ schwornengerichte vollständig, In der grundsätzlich auf überallhin verzweigten staatlichen Gerichtshöfen und deren wissenschaftlicher Rechtsübung ruhenden Civil- wie Strafproceßordnung fristet die deutsche Jury eine höchst kümmer¬ liche Scheinexistenz, als periodisch beliebtes populäres Dekorationsstück. Durch eine Reihe ziemlich complicirter Verwaltungsoperationen und allerlei Filte¬ rungen werden von Zeit zu Zeit einige Bürger von den Staatsbehörden dazu herangezogen, bei der Aburtheilung gewisser Kategorien von Verbrechen als Vertreter volkstümlicher Rechtsüberzeugung eine gewisse Mitwirkung zu üben. Wie diese Mitwirkung am Besten einzurichten, ohne die Interessen der staatlichen Strafrechtspflege zu gefährden, darüber haben wir dann ver¬ schiedene „Systeme" in der Theorie, und vielerlei Experimente in der legis¬ lativen Praxis durchgemacht. Allen aber ist gemeinsam, an der unumstö߬ lichen Voraussetzung festzuhalten, daß die Jury eine absonderliche, exceptio¬ nelle Einrichtung für die Hauptverhandlung auserlesener Criminalfälle sei und bleiben müsse, ein künstliches Anhängsel der ordentlichen Gerichts¬ barkeit. Die jüngsten strafprocessualischen Elaborate Preußens, Sachsens, Oestreichs stehen darin vollkommen auf demselben Boden. So ist es denn von vornherein verkehrt, statt von unten zu arbeiten, an der Fundamentirung der deutschen Jury, ihre organischen Grundlagen zu kräftigen und zu erweitern, den Grundsatz der Ueoertragung richterlicher Funktionen auf die Gemeindegenossen in vollster Entwickelung zum leitenden der gesammten Gerichtsverfassung zu erheben—statt alles dessen in weiterer Zuspitzung unseres SchwurgerichiSapparats nur auf die Uebertragung noch einiger neuer Kategorien von Delieten auf diese künstliche Spitze zu sinnen. Dadurch werden die Uebelstände eines verfehlten Instituts nur weiter ver¬ pflanzt, die Gerichtsverfassung durch Vermehrung der im Verfahren privile- girten strafbaren Handlungen noch unförmlicher gestaltet und die Gewöhnung des Volks, in dem etwa alle zwei Jahre einmal wiederkehrenden Zuhören und Abstimmen bei irgend einem interessanten Criminalfall das Wesen volks- thümlicher Rechtsübung zu erblicken, nur befestigt. Und was ist das nun für eine verschwommene neue Kategorie, die der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/410>, abgerufen am 24.07.2024.