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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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nannt worden, eine Ernennung, die vielfach als Sieg der aristokratischen,
zugleich westeuropäisch gesinnten Partei über die Moskaner Panslavisten und
Demokraten angesehen worden ist, zumal eines der fanatischsten Organe der
Nationalpartei, das Slovophilen - Journal "Moskwa", nach monatelangem
Proceß vom Reichsrath unterdrückt worden ist. Um dieselbe Zeit war ein kai¬
serlicher Befehl erschienen, der den Verkauf der Staatsdomainen in den bal¬
tischen Provinzen zum Gegenstande hatte und für besonders wichtig galt,
weil er im Gegensatz zu den Tendenzen des Domainenministers Selenny
keine Zerstückelung der geschlossenen Bauernhöfe und keine Vertheilung der¬
selben unter die Knechte, sondern Erhaltung des bisherigen Wirthschafts-
systems anordnete; die gegenwärtigen Pachtinhaber der zu den Domainen
gehörigen Bauernhöfe erhielten das Recht, dieselben gegen normirte Preise
anzukaufen. Damit schien den Wünschen jener Partei die Spitze abgebrochen
worden zu sein, welche durch eine allgemeine Landvertheilung der nationalen
Theorie vor dem gleichen Anspruch Aller auf die Mutter Erde in Livland
Eingang zu verschaffen hoffte. Aber die Macht der Moskaner nationalen
ist darum nicht gebrochen und die Minister, welche für Gegner derselben
gelten, scheinen noch abhängiger von den Leitern der demokratischen Presse zu
sein, als deren Genossen. Die Russificirung in Litthauen und Polen nimmt
all' den schlechten bisher gemachten Erfahrungen zum Trotz ihren Fortgang
und den Ostseeprovinzen wird immer wieder mit Einführung russischen Unter¬
richts in ihre Gymnasien und Ablösung der Volksschule von der lutherischen
Kirche gedroht. Der von dem letzten livländischen Landtage gefaßte Be¬
schluß, um Aufhebung der strengen, die baltische Presse niederdrückenden Prä-
ventivcensur und Ausdehnung der für die Residenzen bestehenden Preßfreihett
auf die Ostseeprovinzen zu bitten, ist auf den entschiedenen Widerspruch des
Ministers des Innern gestoßen und von der Regierung abschläglich beantwortet
worden. In den Regierungskreisen ist sogar ernstlich davon die Rede, die
der Moskaner und Petersburger Presse im Jahre 1863 bewilligte Freiheit
möglichst einzuschränken, da das Verwarnungssystem sich als "ungenügend"
erwiesen habe. Ob man im Ernst wagen wird, die souveraine Freiheit der
allmächtigen Journalisten der Moskau'schen Zeitung anzutasten, ist übrigens
sehr zweifelhaft; die bisher gemachten Erfahrungen haben bewiesen, daß die¬
selben mächtiger sind, als alle ihre Gegner, und daß die höchste Staatsgewalt
es im entscheidenden Augenblick immer sür klüger gehalten hat, den Leitern
der öffentlichen Meinung nachzugeben, als einen offenen Bruch mit den Män¬
nern zu wagen, welche im Jahre 1863 den moralischen Einfluß des polnisch-
litthauischen Aufstandes zu brechen wußten. In einem unfreien Staat ist die
Freiheit der Presse gerade so gefährlich, wie sie in einem Rechtsstaat wohlthätig
und unentbehrlich ist --am gefährlichsten aber, wenn sie nicht für alle Organe


nannt worden, eine Ernennung, die vielfach als Sieg der aristokratischen,
zugleich westeuropäisch gesinnten Partei über die Moskaner Panslavisten und
Demokraten angesehen worden ist, zumal eines der fanatischsten Organe der
Nationalpartei, das Slovophilen - Journal „Moskwa", nach monatelangem
Proceß vom Reichsrath unterdrückt worden ist. Um dieselbe Zeit war ein kai¬
serlicher Befehl erschienen, der den Verkauf der Staatsdomainen in den bal¬
tischen Provinzen zum Gegenstande hatte und für besonders wichtig galt,
weil er im Gegensatz zu den Tendenzen des Domainenministers Selenny
keine Zerstückelung der geschlossenen Bauernhöfe und keine Vertheilung der¬
selben unter die Knechte, sondern Erhaltung des bisherigen Wirthschafts-
systems anordnete; die gegenwärtigen Pachtinhaber der zu den Domainen
gehörigen Bauernhöfe erhielten das Recht, dieselben gegen normirte Preise
anzukaufen. Damit schien den Wünschen jener Partei die Spitze abgebrochen
worden zu sein, welche durch eine allgemeine Landvertheilung der nationalen
Theorie vor dem gleichen Anspruch Aller auf die Mutter Erde in Livland
Eingang zu verschaffen hoffte. Aber die Macht der Moskaner nationalen
ist darum nicht gebrochen und die Minister, welche für Gegner derselben
gelten, scheinen noch abhängiger von den Leitern der demokratischen Presse zu
sein, als deren Genossen. Die Russificirung in Litthauen und Polen nimmt
all' den schlechten bisher gemachten Erfahrungen zum Trotz ihren Fortgang
und den Ostseeprovinzen wird immer wieder mit Einführung russischen Unter¬
richts in ihre Gymnasien und Ablösung der Volksschule von der lutherischen
Kirche gedroht. Der von dem letzten livländischen Landtage gefaßte Be¬
schluß, um Aufhebung der strengen, die baltische Presse niederdrückenden Prä-
ventivcensur und Ausdehnung der für die Residenzen bestehenden Preßfreihett
auf die Ostseeprovinzen zu bitten, ist auf den entschiedenen Widerspruch des
Ministers des Innern gestoßen und von der Regierung abschläglich beantwortet
worden. In den Regierungskreisen ist sogar ernstlich davon die Rede, die
der Moskaner und Petersburger Presse im Jahre 1863 bewilligte Freiheit
möglichst einzuschränken, da das Verwarnungssystem sich als „ungenügend"
erwiesen habe. Ob man im Ernst wagen wird, die souveraine Freiheit der
allmächtigen Journalisten der Moskau'schen Zeitung anzutasten, ist übrigens
sehr zweifelhaft; die bisher gemachten Erfahrungen haben bewiesen, daß die¬
selben mächtiger sind, als alle ihre Gegner, und daß die höchste Staatsgewalt
es im entscheidenden Augenblick immer sür klüger gehalten hat, den Leitern
der öffentlichen Meinung nachzugeben, als einen offenen Bruch mit den Män¬
nern zu wagen, welche im Jahre 1863 den moralischen Einfluß des polnisch-
litthauischen Aufstandes zu brechen wußten. In einem unfreien Staat ist die
Freiheit der Presse gerade so gefährlich, wie sie in einem Rechtsstaat wohlthätig
und unentbehrlich ist —am gefährlichsten aber, wenn sie nicht für alle Organe


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[0398] nannt worden, eine Ernennung, die vielfach als Sieg der aristokratischen, zugleich westeuropäisch gesinnten Partei über die Moskaner Panslavisten und Demokraten angesehen worden ist, zumal eines der fanatischsten Organe der Nationalpartei, das Slovophilen - Journal „Moskwa", nach monatelangem Proceß vom Reichsrath unterdrückt worden ist. Um dieselbe Zeit war ein kai¬ serlicher Befehl erschienen, der den Verkauf der Staatsdomainen in den bal¬ tischen Provinzen zum Gegenstande hatte und für besonders wichtig galt, weil er im Gegensatz zu den Tendenzen des Domainenministers Selenny keine Zerstückelung der geschlossenen Bauernhöfe und keine Vertheilung der¬ selben unter die Knechte, sondern Erhaltung des bisherigen Wirthschafts- systems anordnete; die gegenwärtigen Pachtinhaber der zu den Domainen gehörigen Bauernhöfe erhielten das Recht, dieselben gegen normirte Preise anzukaufen. Damit schien den Wünschen jener Partei die Spitze abgebrochen worden zu sein, welche durch eine allgemeine Landvertheilung der nationalen Theorie vor dem gleichen Anspruch Aller auf die Mutter Erde in Livland Eingang zu verschaffen hoffte. Aber die Macht der Moskaner nationalen ist darum nicht gebrochen und die Minister, welche für Gegner derselben gelten, scheinen noch abhängiger von den Leitern der demokratischen Presse zu sein, als deren Genossen. Die Russificirung in Litthauen und Polen nimmt all' den schlechten bisher gemachten Erfahrungen zum Trotz ihren Fortgang und den Ostseeprovinzen wird immer wieder mit Einführung russischen Unter¬ richts in ihre Gymnasien und Ablösung der Volksschule von der lutherischen Kirche gedroht. Der von dem letzten livländischen Landtage gefaßte Be¬ schluß, um Aufhebung der strengen, die baltische Presse niederdrückenden Prä- ventivcensur und Ausdehnung der für die Residenzen bestehenden Preßfreihett auf die Ostseeprovinzen zu bitten, ist auf den entschiedenen Widerspruch des Ministers des Innern gestoßen und von der Regierung abschläglich beantwortet worden. In den Regierungskreisen ist sogar ernstlich davon die Rede, die der Moskaner und Petersburger Presse im Jahre 1863 bewilligte Freiheit möglichst einzuschränken, da das Verwarnungssystem sich als „ungenügend" erwiesen habe. Ob man im Ernst wagen wird, die souveraine Freiheit der allmächtigen Journalisten der Moskau'schen Zeitung anzutasten, ist übrigens sehr zweifelhaft; die bisher gemachten Erfahrungen haben bewiesen, daß die¬ selben mächtiger sind, als alle ihre Gegner, und daß die höchste Staatsgewalt es im entscheidenden Augenblick immer sür klüger gehalten hat, den Leitern der öffentlichen Meinung nachzugeben, als einen offenen Bruch mit den Män¬ nern zu wagen, welche im Jahre 1863 den moralischen Einfluß des polnisch- litthauischen Aufstandes zu brechen wußten. In einem unfreien Staat ist die Freiheit der Presse gerade so gefährlich, wie sie in einem Rechtsstaat wohlthätig und unentbehrlich ist —am gefährlichsten aber, wenn sie nicht für alle Organe

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/398>, abgerufen am 24.07.2024.