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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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der Grvßvezier in Sachen der türkischen Unterthanen ertheilten russischen
Pässe nachgegeben hat. werden die Wünsche für Aufhebung jener alten Capitu-
lationen, welche den Unterthanen der meisten fremden Nationen Exterritoria¬
lität sichern, so lebhaft und deutlich zur Sprache gebracht, wie es seit zwölf
Jahren nicht mehr geschehen. Nachdem die türkische Regierung sich mit
Oesterreich und England seit lange darüber verständigt hat, daß die Ausnahms¬
stellung der auf türkischem Boden lebenden Westeuropäer ein Hemmniß der
Entwickelung des Staats und ein Hauptgrund für die Ohnmacht der türki¬
schen Polizei und Verwaltung sei, ist die amtliche "Turquie" mit einem Ar¬
tikel hervorgetreten, der den Entschluß des Sultans ausspricht, mit Aushebung
dieser Capitulationen vorzugehen, falls die berechtigten Mächte seinen Wün¬
schen kein Gehör leihen und nicht freiwillig auf dieselben verzichten. Da der
russische Gesandte General Janatjew einen längeren Urlaub genommen hat
und nach Odessa und Petersburg gereist ist, wird die Entscheidung sich wohl
noch längere Zeit hinziehen, auch wenn Frankreich die gleiche Willfährigkeit
zeigen sollte, wie Oestreich und England. Daß Rußland auf die fac¬
tisch zu einem Protektorat gewordene Gerichtsbarkeit seiner diplomatischen
Agenten im Orient verzichten sollte, ist bei der herrschenden Stimmung und
dem entschiedenen, durch die letzte Pariser Conferenz nur gesteigerten Türken¬
haß der einflußreichen Presse mehr wie unwahrscheinlich -- selbst sür den Fall,
daß Preußen sich dem türkischen Vorschlage geneigt zeigen sollte. Ganz ab¬
gesehen von der praktischen Seite hat die Sache für Rußland eine hohe prin¬
cipielle Bedeutung; daß die in der Türkei lebenden Unterthanen des recht¬
gläubigen Zaaren von den Gerichten der Moslem unabhängig sind, bedeutet
dem gemeinen Russen eine Art von Nichtanerkennung der Herrschaft, welche
die Ungläubigen in dem Lande ausüben, das die Wiege des Christenthums
und der orientalischen Kirche war: ihre Unterordnung unter Diener des
Halbmonds würde wesentlich vom religiösen Gesichtspunkt aus beurtheilt und
als Verzicht auf das unveräußerliche Herrscherrecht des byzantinischen Kreuzes
aufgefaßt werden. Wie weit beide Theile mit der Aufrechterhaltung ihrer
Ansprüche gehen werden, läßt sich natürlich nicht voraussehen; der entschlossene
Ton, zu welchem das officiöse türkische Organ sich hinaufgeschraubt hat, legt
den Gedanken nah, daß man mit der That weniger keck und energisch bei
der Hand sein werde.

In Rußland ist man auch in den letzten Wochen ausschließlich mit
inneren Angelegenheiten beschäftigt gewesen und unter diesen spielen die pro-
jectirten und in Angriff genommenen Eisenbahnbauten die Hauptrolle. An
Stelle des General Melnikow ist der Generaladjutant Gras Bobrinsky,
Mitglied einer der angesehensten und populärsten russischen Adelsfamilien,
zum Minister der öffentlichen Bauten und des Communicationswesens er-


der Grvßvezier in Sachen der türkischen Unterthanen ertheilten russischen
Pässe nachgegeben hat. werden die Wünsche für Aufhebung jener alten Capitu-
lationen, welche den Unterthanen der meisten fremden Nationen Exterritoria¬
lität sichern, so lebhaft und deutlich zur Sprache gebracht, wie es seit zwölf
Jahren nicht mehr geschehen. Nachdem die türkische Regierung sich mit
Oesterreich und England seit lange darüber verständigt hat, daß die Ausnahms¬
stellung der auf türkischem Boden lebenden Westeuropäer ein Hemmniß der
Entwickelung des Staats und ein Hauptgrund für die Ohnmacht der türki¬
schen Polizei und Verwaltung sei, ist die amtliche „Turquie" mit einem Ar¬
tikel hervorgetreten, der den Entschluß des Sultans ausspricht, mit Aushebung
dieser Capitulationen vorzugehen, falls die berechtigten Mächte seinen Wün¬
schen kein Gehör leihen und nicht freiwillig auf dieselben verzichten. Da der
russische Gesandte General Janatjew einen längeren Urlaub genommen hat
und nach Odessa und Petersburg gereist ist, wird die Entscheidung sich wohl
noch längere Zeit hinziehen, auch wenn Frankreich die gleiche Willfährigkeit
zeigen sollte, wie Oestreich und England. Daß Rußland auf die fac¬
tisch zu einem Protektorat gewordene Gerichtsbarkeit seiner diplomatischen
Agenten im Orient verzichten sollte, ist bei der herrschenden Stimmung und
dem entschiedenen, durch die letzte Pariser Conferenz nur gesteigerten Türken¬
haß der einflußreichen Presse mehr wie unwahrscheinlich — selbst sür den Fall,
daß Preußen sich dem türkischen Vorschlage geneigt zeigen sollte. Ganz ab¬
gesehen von der praktischen Seite hat die Sache für Rußland eine hohe prin¬
cipielle Bedeutung; daß die in der Türkei lebenden Unterthanen des recht¬
gläubigen Zaaren von den Gerichten der Moslem unabhängig sind, bedeutet
dem gemeinen Russen eine Art von Nichtanerkennung der Herrschaft, welche
die Ungläubigen in dem Lande ausüben, das die Wiege des Christenthums
und der orientalischen Kirche war: ihre Unterordnung unter Diener des
Halbmonds würde wesentlich vom religiösen Gesichtspunkt aus beurtheilt und
als Verzicht auf das unveräußerliche Herrscherrecht des byzantinischen Kreuzes
aufgefaßt werden. Wie weit beide Theile mit der Aufrechterhaltung ihrer
Ansprüche gehen werden, läßt sich natürlich nicht voraussehen; der entschlossene
Ton, zu welchem das officiöse türkische Organ sich hinaufgeschraubt hat, legt
den Gedanken nah, daß man mit der That weniger keck und energisch bei
der Hand sein werde.

In Rußland ist man auch in den letzten Wochen ausschließlich mit
inneren Angelegenheiten beschäftigt gewesen und unter diesen spielen die pro-
jectirten und in Angriff genommenen Eisenbahnbauten die Hauptrolle. An
Stelle des General Melnikow ist der Generaladjutant Gras Bobrinsky,
Mitglied einer der angesehensten und populärsten russischen Adelsfamilien,
zum Minister der öffentlichen Bauten und des Communicationswesens er-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/397>, abgerufen am 24.07.2024.