Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.und der Türkei die Flanke zu decken -- sobald sie nach Westen blicken, gehen 49*
und der Türkei die Flanke zu decken — sobald sie nach Westen blicken, gehen 49*
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0395" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/121082"/> <p xml:id="ID_1190" prev="#ID_1189" next="#ID_1191"> und der Türkei die Flanke zu decken — sobald sie nach Westen blicken, gehen<lb/> ihre Interessen oder das was sie dafür halten, auseinander. Der innere<lb/> Widerspruch, der der gegenwärtigen Lage unseres Welttheils sein eigenthüm¬<lb/> liches Gepräge aufdrückt, tritt nirgend so deutlich zu Tage, wie an dem<lb/> Punkt, wo die Wege der Wiener und der Pester Staatsmänner auseinander<lb/> gehen: die Einen wie die Andern wollen von weiteren Fortschritten Ruhlands<lb/> nichts wissen, aber die Macht, welche im gegenwärtigen Augenblick Rußland<lb/> naturgemäß am nächsten steht, Preußen, wird östlich von derLeitha als Freundin,<lb/> westlich von diesem Grenzfluß als Todfeindin angesehen und behandelt. Der¬<lb/> selbe Widerspruch der Interessen spiegelt sich in Preußens diplomatischer<lb/> Stellung wieder; Rußland ist dem Berliner Cabinet von unschätzbarem Werth,<lb/> weil es Oestreich in Schach hält, Rußlands Angriffswaffen gegen den Kaiser¬<lb/> staat, seine orientalischen und panslavistischen Pläne schneiden aber zugleich in<lb/> das Fleiich der preußischen Interessen, denn Ungarn, das in Rußland doppelt<lb/> verhaßte Ungarn, ist Preußens natürlicher Verbündeter. Auf Schritt und Tritt<lb/> begegnet uns dieser wunderliche Gegensatz gemeinsamer und divergirender In¬<lb/> teressen, in Rumänien und in Böhmen, in der orientalischen wie in der<lb/> galizischen Frage. Preußen, das durch seine mit Rußland gemeinsame polnische<lb/> Politik dafür interessirt ist, die in Galizien herrschende Race in Schranken<lb/> gehalten zu sehen, darf Ungarns wegen doch nicht wünschen, daß die Ruthenen<lb/> am Dnjester und San das Uebergewicht erhalten, denn jeder Sieg des russi¬<lb/> schen Elements in Galizien kräftigt das slavische, arti-magyarisch gesinnte<lb/> Element in Ungarn. Rumänien, für dessen Haltung seit der Thronbesteigung<lb/> des Fürsten Karl Preußen allenthalben verantwortlich gemacht wird, ist<lb/> Rußlands natürlicher Verbündeter gegen die Pforte und zugleich ein preußi¬<lb/> scher Schachstein gegen Oestreich; aber die Großrumänen von der Partei<lb/> Bratianos sind in Pest ebenso gefürchtet und gehaßt wie in Konstantinopel,<lb/> Weil die Erwerbung der von Moldau-Wallachen bewohnten Theile des Banats<lb/> und Siebenbürgens ebenso zu ihrem Programm gehört, wie die völlige Los¬<lb/> trennung des Hospodarenstaats von der Türkei. Die Ungarn wissen sehr<lb/> Wohl, daß Preußens nahe Beziehungen zu Nußland wesentlich in ihrem Interesse<lb/> verwendet werden, und daß Rußland seine panslavistischen Wünsche ledig¬<lb/> lich aus Rücksicht auf das Berliner Cabinet in Schranken hält — darum<lb/> thun sie ihr Möglichstes, um dem Grafen Beust die rührigen Hände zu binden,<lb/> mit denen er gegen Preußen Minen gräbt. Aber auf der andern Seite<lb/> können sie sich nicht verhehlen, daß Oestreichs orientalische Politik ihnen stärkere<lb/> Garantien gegen die Gefahr russisch-slavischer Ueberfluthung bietet, als die<lb/> Preußische Gönnerschaft, und schon darum werden sie es zu einer entschiedenen<lb/> Haltung gegenüber dem Reichskanzler auf die Dauer nicht bringen. Im<lb/> Augenblick wirkt die Besorgniß vor einer durch die Beust'sche Politik der Rache</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> 49*</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0395]
und der Türkei die Flanke zu decken — sobald sie nach Westen blicken, gehen
ihre Interessen oder das was sie dafür halten, auseinander. Der innere
Widerspruch, der der gegenwärtigen Lage unseres Welttheils sein eigenthüm¬
liches Gepräge aufdrückt, tritt nirgend so deutlich zu Tage, wie an dem
Punkt, wo die Wege der Wiener und der Pester Staatsmänner auseinander
gehen: die Einen wie die Andern wollen von weiteren Fortschritten Ruhlands
nichts wissen, aber die Macht, welche im gegenwärtigen Augenblick Rußland
naturgemäß am nächsten steht, Preußen, wird östlich von derLeitha als Freundin,
westlich von diesem Grenzfluß als Todfeindin angesehen und behandelt. Der¬
selbe Widerspruch der Interessen spiegelt sich in Preußens diplomatischer
Stellung wieder; Rußland ist dem Berliner Cabinet von unschätzbarem Werth,
weil es Oestreich in Schach hält, Rußlands Angriffswaffen gegen den Kaiser¬
staat, seine orientalischen und panslavistischen Pläne schneiden aber zugleich in
das Fleiich der preußischen Interessen, denn Ungarn, das in Rußland doppelt
verhaßte Ungarn, ist Preußens natürlicher Verbündeter. Auf Schritt und Tritt
begegnet uns dieser wunderliche Gegensatz gemeinsamer und divergirender In¬
teressen, in Rumänien und in Böhmen, in der orientalischen wie in der
galizischen Frage. Preußen, das durch seine mit Rußland gemeinsame polnische
Politik dafür interessirt ist, die in Galizien herrschende Race in Schranken
gehalten zu sehen, darf Ungarns wegen doch nicht wünschen, daß die Ruthenen
am Dnjester und San das Uebergewicht erhalten, denn jeder Sieg des russi¬
schen Elements in Galizien kräftigt das slavische, arti-magyarisch gesinnte
Element in Ungarn. Rumänien, für dessen Haltung seit der Thronbesteigung
des Fürsten Karl Preußen allenthalben verantwortlich gemacht wird, ist
Rußlands natürlicher Verbündeter gegen die Pforte und zugleich ein preußi¬
scher Schachstein gegen Oestreich; aber die Großrumänen von der Partei
Bratianos sind in Pest ebenso gefürchtet und gehaßt wie in Konstantinopel,
Weil die Erwerbung der von Moldau-Wallachen bewohnten Theile des Banats
und Siebenbürgens ebenso zu ihrem Programm gehört, wie die völlige Los¬
trennung des Hospodarenstaats von der Türkei. Die Ungarn wissen sehr
Wohl, daß Preußens nahe Beziehungen zu Nußland wesentlich in ihrem Interesse
verwendet werden, und daß Rußland seine panslavistischen Wünsche ledig¬
lich aus Rücksicht auf das Berliner Cabinet in Schranken hält — darum
thun sie ihr Möglichstes, um dem Grafen Beust die rührigen Hände zu binden,
mit denen er gegen Preußen Minen gräbt. Aber auf der andern Seite
können sie sich nicht verhehlen, daß Oestreichs orientalische Politik ihnen stärkere
Garantien gegen die Gefahr russisch-slavischer Ueberfluthung bietet, als die
Preußische Gönnerschaft, und schon darum werden sie es zu einer entschiedenen
Haltung gegenüber dem Reichskanzler auf die Dauer nicht bringen. Im
Augenblick wirkt die Besorgniß vor einer durch die Beust'sche Politik der Rache
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