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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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der Pfingstzeit unterbrochenen Arbeiten wieder aufgenommen haben und die
neu gewählten Vertreter Ungarns in eine neue Legislatur-Periode eintraten,
ist der östreichische Reichstag, nachdem er über ein halbes Jahr lang in
Thätigkeit gewesen, am 16, Mai geschlossen worden. Dem letzten Monat
der Wiener parlamentarischen Saison war von Seiten der liberalen deutsch¬
östreichischen Partei mit besonderem Bangen entgegengesehen worden, da eine
ganze Reihe von Störungen des jungen dualistischen Systems und damit des
mühsam errungenen Verfassungslebens zu drohen schien: Austritt der Polen,
vielleicht auch der Slowenen aus dem Reichsrath, Schädigung der Reichs-
zweiheit durch Beust'sche Concessionen an die böhmische Nationalpartei, end¬
lich eine Umgestaltung des Wahlrechts, die zwar an und für sich dem parla¬
mentarischen System günstig gewesen wäre, wegen der grollenden Tiroler
aber mehr gefürchtet als gewünscht wurde. Von diesen Befürchtungen hat
sich keine bewahrheitet; trotz der Entschiedenheit, die sie bei der Debatte über
das Schulgesetz bewiesen und trotz der abweichenden Meinung des größten-
theils der polnischen Presse (den "Czas" allein ausgenommen) haben die gali-
zischen Deputirten ihre Mandate nicht niedergelegt, sondern den Beschluß ge¬
faßt, es mit der neuen Verfassung noch eine Zeit lang zu versuchen. Ebenso
unerfüllt sind die Hoffnungen der jungtschechischen Partei geblieben; sogar den
Schein von Concessionen an dieselbe hat man gemieden und die Amnestie,
deren Nutzlosigkeit von der böhmischen Presse im voraus verkündet wurde,
ist gar nicht erlassen worden. Natürlich hat die Aufhebung des Ausnahme-
Zustandes unter solchen Umständen keine versöhnende Wirkung haben können,
und nimmt die Erbitterung der von Prag aus geleiteten Nationalpartei
stündlich zu. Aber trotz aller hochtönenden Reden derselben scheint es doch,
als ob dieselbe von ihrer Siegesgewißheit verloren habe. Die in Berlin
herausgegebene ,,<noi-i'Wp0nÄanc:s 1so!r6<ius," welche die jungböhmischen
Stimmungen ziemlich getreu widerspiegelt und sich durch ihr entschiedenes
Auftreten gegen die panslavistischen Anhänger Rußlands eine gewisse Stellung
erworben hat, ermahnt in ihren letzten Nummern'nur noch zum Ausharren
im Allgemeinen, weiß bestimmte Termine und Anhaltepunkte für die Realisirung
ihrer Wünsche aber ebenso wenig anzugeben, wie die Redaction der "Narodny
Listy". -- Nichts desto weniger trägt das östreichische Staatsleben keine heiterere
und., siegesgewissere Miene als vor vier Wochen, und der trockene geschäftliche
Ton der zum Schluß der Reichraths-Session gehaltenen Thronrede zeigt nichts
von der aufstrebenden Begeisterung, mit welcher die cisleithanischen Minister
vor Jahresfrist ihr Reformwerk aufnahmen. Freilich hat eine lange Reihe
Peinlicher Erfahrungen den Bürgermirnstern bewiesen, daß der Weg von frei¬
sinnigen Neichsrathsbeschlüssen und Gesetzen bis zur Ausführung derselben in
der östreichischen Monarchie noch weiter ist als in den meisten übrigen euro-


Grenzdoten II. 186V. 49

der Pfingstzeit unterbrochenen Arbeiten wieder aufgenommen haben und die
neu gewählten Vertreter Ungarns in eine neue Legislatur-Periode eintraten,
ist der östreichische Reichstag, nachdem er über ein halbes Jahr lang in
Thätigkeit gewesen, am 16, Mai geschlossen worden. Dem letzten Monat
der Wiener parlamentarischen Saison war von Seiten der liberalen deutsch¬
östreichischen Partei mit besonderem Bangen entgegengesehen worden, da eine
ganze Reihe von Störungen des jungen dualistischen Systems und damit des
mühsam errungenen Verfassungslebens zu drohen schien: Austritt der Polen,
vielleicht auch der Slowenen aus dem Reichsrath, Schädigung der Reichs-
zweiheit durch Beust'sche Concessionen an die böhmische Nationalpartei, end¬
lich eine Umgestaltung des Wahlrechts, die zwar an und für sich dem parla¬
mentarischen System günstig gewesen wäre, wegen der grollenden Tiroler
aber mehr gefürchtet als gewünscht wurde. Von diesen Befürchtungen hat
sich keine bewahrheitet; trotz der Entschiedenheit, die sie bei der Debatte über
das Schulgesetz bewiesen und trotz der abweichenden Meinung des größten-
theils der polnischen Presse (den „Czas" allein ausgenommen) haben die gali-
zischen Deputirten ihre Mandate nicht niedergelegt, sondern den Beschluß ge¬
faßt, es mit der neuen Verfassung noch eine Zeit lang zu versuchen. Ebenso
unerfüllt sind die Hoffnungen der jungtschechischen Partei geblieben; sogar den
Schein von Concessionen an dieselbe hat man gemieden und die Amnestie,
deren Nutzlosigkeit von der böhmischen Presse im voraus verkündet wurde,
ist gar nicht erlassen worden. Natürlich hat die Aufhebung des Ausnahme-
Zustandes unter solchen Umständen keine versöhnende Wirkung haben können,
und nimmt die Erbitterung der von Prag aus geleiteten Nationalpartei
stündlich zu. Aber trotz aller hochtönenden Reden derselben scheint es doch,
als ob dieselbe von ihrer Siegesgewißheit verloren habe. Die in Berlin
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Stimmungen ziemlich getreu widerspiegelt und sich durch ihr entschiedenes
Auftreten gegen die panslavistischen Anhänger Rußlands eine gewisse Stellung
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im Allgemeinen, weiß bestimmte Termine und Anhaltepunkte für die Realisirung
ihrer Wünsche aber ebenso wenig anzugeben, wie die Redaction der „Narodny
Listy". — Nichts desto weniger trägt das östreichische Staatsleben keine heiterere
und., siegesgewissere Miene als vor vier Wochen, und der trockene geschäftliche
Ton der zum Schluß der Reichraths-Session gehaltenen Thronrede zeigt nichts
von der aufstrebenden Begeisterung, mit welcher die cisleithanischen Minister
vor Jahresfrist ihr Reformwerk aufnahmen. Freilich hat eine lange Reihe
Peinlicher Erfahrungen den Bürgermirnstern bewiesen, daß der Weg von frei¬
sinnigen Neichsrathsbeschlüssen und Gesetzen bis zur Ausführung derselben in
der östreichischen Monarchie noch weiter ist als in den meisten übrigen euro-


Grenzdoten II. 186V. 49
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[0393] der Pfingstzeit unterbrochenen Arbeiten wieder aufgenommen haben und die neu gewählten Vertreter Ungarns in eine neue Legislatur-Periode eintraten, ist der östreichische Reichstag, nachdem er über ein halbes Jahr lang in Thätigkeit gewesen, am 16, Mai geschlossen worden. Dem letzten Monat der Wiener parlamentarischen Saison war von Seiten der liberalen deutsch¬ östreichischen Partei mit besonderem Bangen entgegengesehen worden, da eine ganze Reihe von Störungen des jungen dualistischen Systems und damit des mühsam errungenen Verfassungslebens zu drohen schien: Austritt der Polen, vielleicht auch der Slowenen aus dem Reichsrath, Schädigung der Reichs- zweiheit durch Beust'sche Concessionen an die böhmische Nationalpartei, end¬ lich eine Umgestaltung des Wahlrechts, die zwar an und für sich dem parla¬ mentarischen System günstig gewesen wäre, wegen der grollenden Tiroler aber mehr gefürchtet als gewünscht wurde. Von diesen Befürchtungen hat sich keine bewahrheitet; trotz der Entschiedenheit, die sie bei der Debatte über das Schulgesetz bewiesen und trotz der abweichenden Meinung des größten- theils der polnischen Presse (den „Czas" allein ausgenommen) haben die gali- zischen Deputirten ihre Mandate nicht niedergelegt, sondern den Beschluß ge¬ faßt, es mit der neuen Verfassung noch eine Zeit lang zu versuchen. Ebenso unerfüllt sind die Hoffnungen der jungtschechischen Partei geblieben; sogar den Schein von Concessionen an dieselbe hat man gemieden und die Amnestie, deren Nutzlosigkeit von der böhmischen Presse im voraus verkündet wurde, ist gar nicht erlassen worden. Natürlich hat die Aufhebung des Ausnahme- Zustandes unter solchen Umständen keine versöhnende Wirkung haben können, und nimmt die Erbitterung der von Prag aus geleiteten Nationalpartei stündlich zu. Aber trotz aller hochtönenden Reden derselben scheint es doch, als ob dieselbe von ihrer Siegesgewißheit verloren habe. Die in Berlin herausgegebene ,,<noi-i'Wp0nÄanc:s 1so!r6<ius," welche die jungböhmischen Stimmungen ziemlich getreu widerspiegelt und sich durch ihr entschiedenes Auftreten gegen die panslavistischen Anhänger Rußlands eine gewisse Stellung erworben hat, ermahnt in ihren letzten Nummern'nur noch zum Ausharren im Allgemeinen, weiß bestimmte Termine und Anhaltepunkte für die Realisirung ihrer Wünsche aber ebenso wenig anzugeben, wie die Redaction der „Narodny Listy". — Nichts desto weniger trägt das östreichische Staatsleben keine heiterere und., siegesgewissere Miene als vor vier Wochen, und der trockene geschäftliche Ton der zum Schluß der Reichraths-Session gehaltenen Thronrede zeigt nichts von der aufstrebenden Begeisterung, mit welcher die cisleithanischen Minister vor Jahresfrist ihr Reformwerk aufnahmen. Freilich hat eine lange Reihe Peinlicher Erfahrungen den Bürgermirnstern bewiesen, daß der Weg von frei¬ sinnigen Neichsrathsbeschlüssen und Gesetzen bis zur Ausführung derselben in der östreichischen Monarchie noch weiter ist als in den meisten übrigen euro- Grenzdoten II. 186V. 49

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/393>, abgerufen am 24.07.2024.