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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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schwächere Werke nach dessen Tode ans Licht zu ziehen; wir gewinnen dadurch
einen Blick in die Arbeit des edlen".Meisters, und, was mindestens ebenso
wichtig ist, in seine Selbstkritik.

Besonders interessant ist die Physiognomie des Saals, wenn der Name
Richard Wagner's auf dem Programme steht. Im voraus überall die höchste
Spannung; kaum hat der letzte Ton ausgeklungen, so bricht ein wahrer
Sturm von Pfeifen und Zischen einerseits, andererseits von Klatschen und
Bravorufen aus; und es dauert lange, ehe die Ruhe wieder eintritt; zwei,
dreimal läßt Pasdeloup die folgende Nummer anfangen -- es hilft nichts,
die streitlustigen haben noch nicht ausgetobt, und er muß den Dirigenten¬
stock wieder hinlegen; oft sogar, wenn die Zukunftsschwärmer den Sieg er-
schrieen haben, erschallt in die ersten Tacte des äa, eaxo gegebenen Stücks
noch ein gellendes Hohngelächter oder ein entrüstetes NonI Oft vereinigt sich
ein Theil des Publicums gegen die beiden streitenden Parteien, und ein ge¬
meinsamer Ruf a 1a pone! muß die feurigsten Kämpen etwas abkühlen. Uns
waren diese rohen Scenen immer peinlich, und sie schienen uns des Ortes
nicht würdig; freilich macht es der französische Studentin seinem Auditorium
und der loyale Abgeordnete im Lorxs leg-isIaM nicht viel besser! -- Richard
Wagner bildet jetzt überhaupt das Thema aller musikalischen Unterhaltungen,
und seit der Aufführung des "Rienzi", den Pasdeloup als jetziger Director
des ille^tre I^vrique mit großem Pomp und noch größerer Reclame in
Scene gesetzt hat, wissen die Pariser weniger als je, was sie von dem auf¬
regenden Neuerer zu denken haben. Ein großer Theil der Puffe, der sich
getroffen fühlen mochte, erhob sich mit Recht gegen die anmaßende Bro¬
schüre, "das Judenthum in der Musik", aber eine ebenfalls ansehnliche Anzahl
von Kritikern hatte klug vorhergesagt: Wenn wir Wagner verstehen, so
wird das ein großer Fortschritt sein -- und natürlich rufen nun die moutons
as ?anni'M: Wir haben verstanden, wir haben diesen Fortschritt gemacht!
Aber auf den Grund der Sache ist noch niemand gegangen, niemand hat.
die Unmöglichkeit einer steten Verbindung von Wort und Musik, in dem
Sinne wie Wagner es meint, dargelegt, oder das Gegentheil bewiesen, auch
nicht der begeistert und beredt geschriebene Artikel Ed. Schule's- (Revue ach
6eux mvliäes, 15. April), des poetischen Verfassers der Ilistoiro an I^ieÄ.
Schure's Aufsatz, ein Panegyrikus R. Wagners, bewegt sich stets um die
Kernfrage herum, und befaßt sich überhaupt weniger mit dem musikalischen
als mit dem dichterischen Elemente der Wagner'schen sogenannten musikalischen
Dramen.

Bei unseren concerts xopulaireg glauben wir eher einen Fortschritt in
unserem Sinne wahrzunehmen. Die entsetzlich häßliche Ouvertüre zum flie¬
genden Holländer, die Stücke aus den Meistersingern (Vorspiel, Walzer und


Grenzboten II. 1869. 47

schwächere Werke nach dessen Tode ans Licht zu ziehen; wir gewinnen dadurch
einen Blick in die Arbeit des edlen".Meisters, und, was mindestens ebenso
wichtig ist, in seine Selbstkritik.

Besonders interessant ist die Physiognomie des Saals, wenn der Name
Richard Wagner's auf dem Programme steht. Im voraus überall die höchste
Spannung; kaum hat der letzte Ton ausgeklungen, so bricht ein wahrer
Sturm von Pfeifen und Zischen einerseits, andererseits von Klatschen und
Bravorufen aus; und es dauert lange, ehe die Ruhe wieder eintritt; zwei,
dreimal läßt Pasdeloup die folgende Nummer anfangen — es hilft nichts,
die streitlustigen haben noch nicht ausgetobt, und er muß den Dirigenten¬
stock wieder hinlegen; oft sogar, wenn die Zukunftsschwärmer den Sieg er-
schrieen haben, erschallt in die ersten Tacte des äa, eaxo gegebenen Stücks
noch ein gellendes Hohngelächter oder ein entrüstetes NonI Oft vereinigt sich
ein Theil des Publicums gegen die beiden streitenden Parteien, und ein ge¬
meinsamer Ruf a 1a pone! muß die feurigsten Kämpen etwas abkühlen. Uns
waren diese rohen Scenen immer peinlich, und sie schienen uns des Ortes
nicht würdig; freilich macht es der französische Studentin seinem Auditorium
und der loyale Abgeordnete im Lorxs leg-isIaM nicht viel besser! — Richard
Wagner bildet jetzt überhaupt das Thema aller musikalischen Unterhaltungen,
und seit der Aufführung des „Rienzi", den Pasdeloup als jetziger Director
des ille^tre I^vrique mit großem Pomp und noch größerer Reclame in
Scene gesetzt hat, wissen die Pariser weniger als je, was sie von dem auf¬
regenden Neuerer zu denken haben. Ein großer Theil der Puffe, der sich
getroffen fühlen mochte, erhob sich mit Recht gegen die anmaßende Bro¬
schüre, „das Judenthum in der Musik", aber eine ebenfalls ansehnliche Anzahl
von Kritikern hatte klug vorhergesagt: Wenn wir Wagner verstehen, so
wird das ein großer Fortschritt sein — und natürlich rufen nun die moutons
as ?anni'M: Wir haben verstanden, wir haben diesen Fortschritt gemacht!
Aber auf den Grund der Sache ist noch niemand gegangen, niemand hat.
die Unmöglichkeit einer steten Verbindung von Wort und Musik, in dem
Sinne wie Wagner es meint, dargelegt, oder das Gegentheil bewiesen, auch
nicht der begeistert und beredt geschriebene Artikel Ed. Schule's- (Revue ach
6eux mvliäes, 15. April), des poetischen Verfassers der Ilistoiro an I^ieÄ.
Schure's Aufsatz, ein Panegyrikus R. Wagners, bewegt sich stets um die
Kernfrage herum, und befaßt sich überhaupt weniger mit dem musikalischen
als mit dem dichterischen Elemente der Wagner'schen sogenannten musikalischen
Dramen.

Bei unseren concerts xopulaireg glauben wir eher einen Fortschritt in
unserem Sinne wahrzunehmen. Die entsetzlich häßliche Ouvertüre zum flie¬
genden Holländer, die Stücke aus den Meistersingern (Vorspiel, Walzer und


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[0377] schwächere Werke nach dessen Tode ans Licht zu ziehen; wir gewinnen dadurch einen Blick in die Arbeit des edlen".Meisters, und, was mindestens ebenso wichtig ist, in seine Selbstkritik. Besonders interessant ist die Physiognomie des Saals, wenn der Name Richard Wagner's auf dem Programme steht. Im voraus überall die höchste Spannung; kaum hat der letzte Ton ausgeklungen, so bricht ein wahrer Sturm von Pfeifen und Zischen einerseits, andererseits von Klatschen und Bravorufen aus; und es dauert lange, ehe die Ruhe wieder eintritt; zwei, dreimal läßt Pasdeloup die folgende Nummer anfangen — es hilft nichts, die streitlustigen haben noch nicht ausgetobt, und er muß den Dirigenten¬ stock wieder hinlegen; oft sogar, wenn die Zukunftsschwärmer den Sieg er- schrieen haben, erschallt in die ersten Tacte des äa, eaxo gegebenen Stücks noch ein gellendes Hohngelächter oder ein entrüstetes NonI Oft vereinigt sich ein Theil des Publicums gegen die beiden streitenden Parteien, und ein ge¬ meinsamer Ruf a 1a pone! muß die feurigsten Kämpen etwas abkühlen. Uns waren diese rohen Scenen immer peinlich, und sie schienen uns des Ortes nicht würdig; freilich macht es der französische Studentin seinem Auditorium und der loyale Abgeordnete im Lorxs leg-isIaM nicht viel besser! — Richard Wagner bildet jetzt überhaupt das Thema aller musikalischen Unterhaltungen, und seit der Aufführung des „Rienzi", den Pasdeloup als jetziger Director des ille^tre I^vrique mit großem Pomp und noch größerer Reclame in Scene gesetzt hat, wissen die Pariser weniger als je, was sie von dem auf¬ regenden Neuerer zu denken haben. Ein großer Theil der Puffe, der sich getroffen fühlen mochte, erhob sich mit Recht gegen die anmaßende Bro¬ schüre, „das Judenthum in der Musik", aber eine ebenfalls ansehnliche Anzahl von Kritikern hatte klug vorhergesagt: Wenn wir Wagner verstehen, so wird das ein großer Fortschritt sein — und natürlich rufen nun die moutons as ?anni'M: Wir haben verstanden, wir haben diesen Fortschritt gemacht! Aber auf den Grund der Sache ist noch niemand gegangen, niemand hat. die Unmöglichkeit einer steten Verbindung von Wort und Musik, in dem Sinne wie Wagner es meint, dargelegt, oder das Gegentheil bewiesen, auch nicht der begeistert und beredt geschriebene Artikel Ed. Schule's- (Revue ach 6eux mvliäes, 15. April), des poetischen Verfassers der Ilistoiro an I^ieÄ. Schure's Aufsatz, ein Panegyrikus R. Wagners, bewegt sich stets um die Kernfrage herum, und befaßt sich überhaupt weniger mit dem musikalischen als mit dem dichterischen Elemente der Wagner'schen sogenannten musikalischen Dramen. Bei unseren concerts xopulaireg glauben wir eher einen Fortschritt in unserem Sinne wahrzunehmen. Die entsetzlich häßliche Ouvertüre zum flie¬ genden Holländer, die Stücke aus den Meistersingern (Vorspiel, Walzer und Grenzboten II. 1869. 47

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/377>, abgerufen am 24.07.2024.