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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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Faust, dazwischen manchmal Wilhelm Tell oder die Jüdin; die Opera coal^us
gibt nur die französischen Spielopern; in den Italiens, die sonst vollendete
Aufführungen bieten, herrschen unumschränkt Rossini, Bellini, Donizetti und
Verdi. Das Itieatre I^riczus war das einzige, das wirklich künstlerische
Zwecke verfolgte. Die Concerte des Lonservatoire, die ja als das nonxlus
ultra einer vollkommenen Aufführung gepriesen werden, sind für das Publi¬
kum so gut wie unzugänglich; die Plätze sind alle Abonnementsplätze und
deren Besitz bleibt erblich in den nämlichen Familien. Die Programme der
von einzelnen Künstlern veranstalteten Concerte weisen meistens nur deren
eigene Compositionen auf. Die Quartettgesellschaften endlich, sowohl die so¬
genannte florentinische von Jean Becker als die Pariser, die sich vornehmlich
Beethoven's letzte Werke zur Aufgabe gestellt hat, leisten zwar Vorzügliches
in Hinsicht der Wahl wie der Ausführung der Musikstücke, aber die Preise
ihrer Concerte sind so hoch, daß ihr Besuch allein den reichen Classen der
Gesellschaft möglich bleibt -- in echt französischer Auffassung, nach welcher
Musik weit mehr noch als die anderen Künste ein Gegenstand des Luxus ist,
eine angenehme Zerstreuung, deren Bedürfniß die weniger Bemittelten wohl
gar nicht empfinden.

Und in der That ist es bekannt genug, und von den Franzosen selbst
eingeräumt, daß der musikalische Sinn bei ihnen noch sehr wenig entwickelt
ist; zwar lieben sie Alles, was klingt, aber von den Bedingungen der Musik
haben die Wenigsten eine Ahnung. In Bezug auf musikalische Kritik
werden täglich die allerabgeschmacktesten Urtheile vorgebracht, wie sie einem
deutschen Publicum -- das doch immer so geduldig ist -- nicht geboten wer¬
den dürften; in vielen der bedeutendsten Tagesblätter ist der theatralische
Feuilletonist zugleich auch mit der Besprechung der musikalischen Aufführungen
beauftragt. Ein Wort des Abbe Arnauld, der in einem interessanten Buche
die polemische Litteratur über den großen von Gluck erregten Streit ver¬
einigt hat. würde heute ebenso gut als zu der Zeit, wo es ausgesprochen
wurde, den hiesigen Kritikern zur Beherzigung empfohlen werden müssen:
Alle Welt gibt zu, daß es, um die Malerei zu beurtheilen, nicht hinreichend
ist. nur Augen zu haben; aber viele Menschen behaupten, daß man nur
Ohren zu haben braucht, um die Musik zu beurtheilen. Daher die vielen
Verkehrtheiten, die begangen werden.

Ein sehr gewagtes Unternehmen war es also, als Ernest Pasdeloup
(früher Intendant Louis Philippe's auf Schloß Neuilly, das am 25. Fe-
bruar 1848 auf eine so rohe Weise zerstört wurde), in den fünfziger Jahren
die Re'union Zeh jeunes artistes zur Pflege und Verbreitung classischer Musik
gründete und mit ihr Concerte veranstaltete. Denn die schwersten Hindernisse
aller Art hatte er zu überwinden, und vor Allem mußte er sein Publicum


Faust, dazwischen manchmal Wilhelm Tell oder die Jüdin; die Opera coal^us
gibt nur die französischen Spielopern; in den Italiens, die sonst vollendete
Aufführungen bieten, herrschen unumschränkt Rossini, Bellini, Donizetti und
Verdi. Das Itieatre I^riczus war das einzige, das wirklich künstlerische
Zwecke verfolgte. Die Concerte des Lonservatoire, die ja als das nonxlus
ultra einer vollkommenen Aufführung gepriesen werden, sind für das Publi¬
kum so gut wie unzugänglich; die Plätze sind alle Abonnementsplätze und
deren Besitz bleibt erblich in den nämlichen Familien. Die Programme der
von einzelnen Künstlern veranstalteten Concerte weisen meistens nur deren
eigene Compositionen auf. Die Quartettgesellschaften endlich, sowohl die so¬
genannte florentinische von Jean Becker als die Pariser, die sich vornehmlich
Beethoven's letzte Werke zur Aufgabe gestellt hat, leisten zwar Vorzügliches
in Hinsicht der Wahl wie der Ausführung der Musikstücke, aber die Preise
ihrer Concerte sind so hoch, daß ihr Besuch allein den reichen Classen der
Gesellschaft möglich bleibt — in echt französischer Auffassung, nach welcher
Musik weit mehr noch als die anderen Künste ein Gegenstand des Luxus ist,
eine angenehme Zerstreuung, deren Bedürfniß die weniger Bemittelten wohl
gar nicht empfinden.

Und in der That ist es bekannt genug, und von den Franzosen selbst
eingeräumt, daß der musikalische Sinn bei ihnen noch sehr wenig entwickelt
ist; zwar lieben sie Alles, was klingt, aber von den Bedingungen der Musik
haben die Wenigsten eine Ahnung. In Bezug auf musikalische Kritik
werden täglich die allerabgeschmacktesten Urtheile vorgebracht, wie sie einem
deutschen Publicum — das doch immer so geduldig ist — nicht geboten wer¬
den dürften; in vielen der bedeutendsten Tagesblätter ist der theatralische
Feuilletonist zugleich auch mit der Besprechung der musikalischen Aufführungen
beauftragt. Ein Wort des Abbe Arnauld, der in einem interessanten Buche
die polemische Litteratur über den großen von Gluck erregten Streit ver¬
einigt hat. würde heute ebenso gut als zu der Zeit, wo es ausgesprochen
wurde, den hiesigen Kritikern zur Beherzigung empfohlen werden müssen:
Alle Welt gibt zu, daß es, um die Malerei zu beurtheilen, nicht hinreichend
ist. nur Augen zu haben; aber viele Menschen behaupten, daß man nur
Ohren zu haben braucht, um die Musik zu beurtheilen. Daher die vielen
Verkehrtheiten, die begangen werden.

Ein sehr gewagtes Unternehmen war es also, als Ernest Pasdeloup
(früher Intendant Louis Philippe's auf Schloß Neuilly, das am 25. Fe-
bruar 1848 auf eine so rohe Weise zerstört wurde), in den fünfziger Jahren
die Re'union Zeh jeunes artistes zur Pflege und Verbreitung classischer Musik
gründete und mit ihr Concerte veranstaltete. Denn die schwersten Hindernisse
aller Art hatte er zu überwinden, und vor Allem mußte er sein Publicum


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[0372] Faust, dazwischen manchmal Wilhelm Tell oder die Jüdin; die Opera coal^us gibt nur die französischen Spielopern; in den Italiens, die sonst vollendete Aufführungen bieten, herrschen unumschränkt Rossini, Bellini, Donizetti und Verdi. Das Itieatre I^riczus war das einzige, das wirklich künstlerische Zwecke verfolgte. Die Concerte des Lonservatoire, die ja als das nonxlus ultra einer vollkommenen Aufführung gepriesen werden, sind für das Publi¬ kum so gut wie unzugänglich; die Plätze sind alle Abonnementsplätze und deren Besitz bleibt erblich in den nämlichen Familien. Die Programme der von einzelnen Künstlern veranstalteten Concerte weisen meistens nur deren eigene Compositionen auf. Die Quartettgesellschaften endlich, sowohl die so¬ genannte florentinische von Jean Becker als die Pariser, die sich vornehmlich Beethoven's letzte Werke zur Aufgabe gestellt hat, leisten zwar Vorzügliches in Hinsicht der Wahl wie der Ausführung der Musikstücke, aber die Preise ihrer Concerte sind so hoch, daß ihr Besuch allein den reichen Classen der Gesellschaft möglich bleibt — in echt französischer Auffassung, nach welcher Musik weit mehr noch als die anderen Künste ein Gegenstand des Luxus ist, eine angenehme Zerstreuung, deren Bedürfniß die weniger Bemittelten wohl gar nicht empfinden. Und in der That ist es bekannt genug, und von den Franzosen selbst eingeräumt, daß der musikalische Sinn bei ihnen noch sehr wenig entwickelt ist; zwar lieben sie Alles, was klingt, aber von den Bedingungen der Musik haben die Wenigsten eine Ahnung. In Bezug auf musikalische Kritik werden täglich die allerabgeschmacktesten Urtheile vorgebracht, wie sie einem deutschen Publicum — das doch immer so geduldig ist — nicht geboten wer¬ den dürften; in vielen der bedeutendsten Tagesblätter ist der theatralische Feuilletonist zugleich auch mit der Besprechung der musikalischen Aufführungen beauftragt. Ein Wort des Abbe Arnauld, der in einem interessanten Buche die polemische Litteratur über den großen von Gluck erregten Streit ver¬ einigt hat. würde heute ebenso gut als zu der Zeit, wo es ausgesprochen wurde, den hiesigen Kritikern zur Beherzigung empfohlen werden müssen: Alle Welt gibt zu, daß es, um die Malerei zu beurtheilen, nicht hinreichend ist. nur Augen zu haben; aber viele Menschen behaupten, daß man nur Ohren zu haben braucht, um die Musik zu beurtheilen. Daher die vielen Verkehrtheiten, die begangen werden. Ein sehr gewagtes Unternehmen war es also, als Ernest Pasdeloup (früher Intendant Louis Philippe's auf Schloß Neuilly, das am 25. Fe- bruar 1848 auf eine so rohe Weise zerstört wurde), in den fünfziger Jahren die Re'union Zeh jeunes artistes zur Pflege und Verbreitung classischer Musik gründete und mit ihr Concerte veranstaltete. Denn die schwersten Hindernisse aller Art hatte er zu überwinden, und vor Allem mußte er sein Publicum

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/372>, abgerufen am 24.07.2024.