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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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wickelten Zweckbestimmungen derselben in der dreifachen Gestalt der natio¬
nalen Macht, der individuellen Freiheit und der gesellschaftlichen Cultur nie¬
mals in einem inneren Widerspruch zu einander stehen können. Sie sind
wesentlich nur verschieden geformte Seiten, die sich um einen und denselben
Körper zusammenschließen. Für die Theorie ergibt sich daraus das Gesetz,
daß die dauernde Förderung des einen Staatszwecks durch Verletzung eines
anderen Staatszwecks undenkbar ist, mit anderen Worten, daß jede Zuwider¬
handlung der Staatsgewalt oder der Gesellschaft gegen einen Staatszweck
dem letzten Erfolge nach auch zu einer Beeinträchtigung der anderen Staats¬
zwecke führen muß. Es ist dies, was der Verfasser "die Harmonie der
Staatszwecke" nennt. Daß dieselben erheblichen Störungen unterliegen, lehrt
jeder Blick in die Geschichte. Die Prüfung der Natur dieser Störungen ist
auch entscheidend für die Beurtheilung der den vorhandenen Regierungs¬
mitteln gegebenen Anwendung. Befindet sich der Staat im Zustande gleich¬
mäßig gesicherter Entwickelung der nationalen, gesellschaftlichen und indivi¬
duellen Lebenskreise, so ist eine vorwiegend erhaltende Politik angedeutet;
ist durch Versäumnisse und Unachtsamkeiten in der Fortbildung der zur Er¬
reichung der Staatszwecke an sich dienlichen Mittel die Gleichmäßigkeit in der
Staatsentwickelung unterbrochen, so ist eine reformatorische Politik an¬
gezeigt, sowie schließlich eine radicale Politik gerechtfertigt sein kann, wenn
ein außerordentlicher, vom Staat zu beseitigender Nothstand vorliegt. An
sich kann weder eine conservative no'es eine liberale, noch eine radicale Po¬
litik jemals von der Theorie völlig verworfen werden, wenn die Rechtferti¬
gung dafür in dem Verhältniß der Staatszwecke zu den Staatsmitteln liegt.
Fragt man im Allgemeinen nach den wichtigsten Garantien gegen die Stö¬
rungen in der Realisation der Staatszwecke, so ist vor allen Dingen auf das
Völkerrecht und das Staatsrecht hinzuweisen -- das Völkerrecht, insofern
die Fortbildung desselben, d. h. die Sicherstellung der in Wahrheit den Völ¬
kern gemeinsamen Interessen, als Verstärkung der in jedem einzelnen Staate
thätigen Kräfte wirkt und das Staatsrecht, weil Verfassungsformen und
Verfassungseinrichtungen überhaupt an diejenigen Kräfte anknüpfen, denen
die Fähigkeit innewohnt zur Erfüllung der staatlichen Gesammtausgabe und
zur Abwehr der erfahrungsgemäß gegen den Staat wirkenden Sonderinterefsen.
"Die Principien der Politik sind nach der ihnen durch das Volksbewußtsein
gegebenen besonderen Gestalt auch die Principien der Versassungspolitik. Eine
gute Verfassung ist nur diejenige, welche der auf die Staatszwecke gerichteten
Wirksamkeit des Einzelnen, der Gesellschaft und der Nation freien Spielraum
und geeignete Thätigkeitsformen bietet, in dem die Harmonie der für die
Gesammtheit nothwendigen Macht mit der individuellen Freiheit gewahrt
wird. Die Herstellung solchen Einklanges kann niemals Sache der Avstraction


wickelten Zweckbestimmungen derselben in der dreifachen Gestalt der natio¬
nalen Macht, der individuellen Freiheit und der gesellschaftlichen Cultur nie¬
mals in einem inneren Widerspruch zu einander stehen können. Sie sind
wesentlich nur verschieden geformte Seiten, die sich um einen und denselben
Körper zusammenschließen. Für die Theorie ergibt sich daraus das Gesetz,
daß die dauernde Förderung des einen Staatszwecks durch Verletzung eines
anderen Staatszwecks undenkbar ist, mit anderen Worten, daß jede Zuwider¬
handlung der Staatsgewalt oder der Gesellschaft gegen einen Staatszweck
dem letzten Erfolge nach auch zu einer Beeinträchtigung der anderen Staats¬
zwecke führen muß. Es ist dies, was der Verfasser „die Harmonie der
Staatszwecke" nennt. Daß dieselben erheblichen Störungen unterliegen, lehrt
jeder Blick in die Geschichte. Die Prüfung der Natur dieser Störungen ist
auch entscheidend für die Beurtheilung der den vorhandenen Regierungs¬
mitteln gegebenen Anwendung. Befindet sich der Staat im Zustande gleich¬
mäßig gesicherter Entwickelung der nationalen, gesellschaftlichen und indivi¬
duellen Lebenskreise, so ist eine vorwiegend erhaltende Politik angedeutet;
ist durch Versäumnisse und Unachtsamkeiten in der Fortbildung der zur Er¬
reichung der Staatszwecke an sich dienlichen Mittel die Gleichmäßigkeit in der
Staatsentwickelung unterbrochen, so ist eine reformatorische Politik an¬
gezeigt, sowie schließlich eine radicale Politik gerechtfertigt sein kann, wenn
ein außerordentlicher, vom Staat zu beseitigender Nothstand vorliegt. An
sich kann weder eine conservative no'es eine liberale, noch eine radicale Po¬
litik jemals von der Theorie völlig verworfen werden, wenn die Rechtferti¬
gung dafür in dem Verhältniß der Staatszwecke zu den Staatsmitteln liegt.
Fragt man im Allgemeinen nach den wichtigsten Garantien gegen die Stö¬
rungen in der Realisation der Staatszwecke, so ist vor allen Dingen auf das
Völkerrecht und das Staatsrecht hinzuweisen — das Völkerrecht, insofern
die Fortbildung desselben, d. h. die Sicherstellung der in Wahrheit den Völ¬
kern gemeinsamen Interessen, als Verstärkung der in jedem einzelnen Staate
thätigen Kräfte wirkt und das Staatsrecht, weil Verfassungsformen und
Verfassungseinrichtungen überhaupt an diejenigen Kräfte anknüpfen, denen
die Fähigkeit innewohnt zur Erfüllung der staatlichen Gesammtausgabe und
zur Abwehr der erfahrungsgemäß gegen den Staat wirkenden Sonderinterefsen.
„Die Principien der Politik sind nach der ihnen durch das Volksbewußtsein
gegebenen besonderen Gestalt auch die Principien der Versassungspolitik. Eine
gute Verfassung ist nur diejenige, welche der auf die Staatszwecke gerichteten
Wirksamkeit des Einzelnen, der Gesellschaft und der Nation freien Spielraum
und geeignete Thätigkeitsformen bietet, in dem die Harmonie der für die
Gesammtheit nothwendigen Macht mit der individuellen Freiheit gewahrt
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[0034] wickelten Zweckbestimmungen derselben in der dreifachen Gestalt der natio¬ nalen Macht, der individuellen Freiheit und der gesellschaftlichen Cultur nie¬ mals in einem inneren Widerspruch zu einander stehen können. Sie sind wesentlich nur verschieden geformte Seiten, die sich um einen und denselben Körper zusammenschließen. Für die Theorie ergibt sich daraus das Gesetz, daß die dauernde Förderung des einen Staatszwecks durch Verletzung eines anderen Staatszwecks undenkbar ist, mit anderen Worten, daß jede Zuwider¬ handlung der Staatsgewalt oder der Gesellschaft gegen einen Staatszweck dem letzten Erfolge nach auch zu einer Beeinträchtigung der anderen Staats¬ zwecke führen muß. Es ist dies, was der Verfasser „die Harmonie der Staatszwecke" nennt. Daß dieselben erheblichen Störungen unterliegen, lehrt jeder Blick in die Geschichte. Die Prüfung der Natur dieser Störungen ist auch entscheidend für die Beurtheilung der den vorhandenen Regierungs¬ mitteln gegebenen Anwendung. Befindet sich der Staat im Zustande gleich¬ mäßig gesicherter Entwickelung der nationalen, gesellschaftlichen und indivi¬ duellen Lebenskreise, so ist eine vorwiegend erhaltende Politik angedeutet; ist durch Versäumnisse und Unachtsamkeiten in der Fortbildung der zur Er¬ reichung der Staatszwecke an sich dienlichen Mittel die Gleichmäßigkeit in der Staatsentwickelung unterbrochen, so ist eine reformatorische Politik an¬ gezeigt, sowie schließlich eine radicale Politik gerechtfertigt sein kann, wenn ein außerordentlicher, vom Staat zu beseitigender Nothstand vorliegt. An sich kann weder eine conservative no'es eine liberale, noch eine radicale Po¬ litik jemals von der Theorie völlig verworfen werden, wenn die Rechtferti¬ gung dafür in dem Verhältniß der Staatszwecke zu den Staatsmitteln liegt. Fragt man im Allgemeinen nach den wichtigsten Garantien gegen die Stö¬ rungen in der Realisation der Staatszwecke, so ist vor allen Dingen auf das Völkerrecht und das Staatsrecht hinzuweisen — das Völkerrecht, insofern die Fortbildung desselben, d. h. die Sicherstellung der in Wahrheit den Völ¬ kern gemeinsamen Interessen, als Verstärkung der in jedem einzelnen Staate thätigen Kräfte wirkt und das Staatsrecht, weil Verfassungsformen und Verfassungseinrichtungen überhaupt an diejenigen Kräfte anknüpfen, denen die Fähigkeit innewohnt zur Erfüllung der staatlichen Gesammtausgabe und zur Abwehr der erfahrungsgemäß gegen den Staat wirkenden Sonderinterefsen. „Die Principien der Politik sind nach der ihnen durch das Volksbewußtsein gegebenen besonderen Gestalt auch die Principien der Versassungspolitik. Eine gute Verfassung ist nur diejenige, welche der auf die Staatszwecke gerichteten Wirksamkeit des Einzelnen, der Gesellschaft und der Nation freien Spielraum und geeignete Thätigkeitsformen bietet, in dem die Harmonie der für die Gesammtheit nothwendigen Macht mit der individuellen Freiheit gewahrt wird. Die Herstellung solchen Einklanges kann niemals Sache der Avstraction

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/34>, abgerufen am 24.07.2024.