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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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Hessen 1866 preußischer gesinnt war, als man 1869 ist. Die Erklärung die¬
ser Thatsache soll den Gegenstand meiner Briefe bilden.

Die Zustände Hessens vor 1866 sind bekannt genug. Wir besaßen eine
Verfassung, die nicht als Product einer revolutionairen Bewegung, son¬
dern durch freie Vereinbarung von Fürst und Volk zu Stande gekommen
war. Unser Beamtenstand war aus größtentheils tüchtig gebildeten, ehren¬
haften Männern zusammengesetzt, die durch alle ihre persönlichen Interessen
darauf hingewiesen waren, die Verfassung aufrecht zu erhalten und zu schützen.
Unser Volk ist nichts weniger als neuerungssüchtig und von revolutionairen
Leidenschaften erfüllt. Viel eher kann man es eines Mangels an Initiative
in allen politischen und socialen Fragen zeihen. Der jetzt verstorbene Literar¬
historiker A. Vilmar, der Hessen und seine Geschichte wie wenige gekannt hat,
bemerkte einmal in früherer Zeit, wo ihn sein religiöser und polirischer Fa¬
natismus noch nicht ganz unempfindlich gegen die Wahrheit gemacht hatte,
über die Hessen in dieser Beziehung: "Wenige Stämme unseres Volkes hallen
längere Zeit in größerer Abgeschiedenheit verharrt, als der hessische, so daß
dieselben Charakrerzüge, die wir an den Hessen des fünfzehnten und sechszehn¬
ten Jahrhunderts finden, im Wesentlichen auch an den Hessen des neunzehn¬
ten Jahrhunderts wahrgenommen werden." Wollte man nur die zwei Er¬
eignisse aus dem Leben des hessischen Volkes im sechszehnten und neunzehn¬
ten Jahrhunderts herausgreifen/ die die tiefste Bewegung seiner Seele in
diesen Jahrhunderten hervorgerufen hatten, so müßte man die Rückkehr
Philipp's des Großmüthigen aus der Gefangenschaft Karl's V. und den Ein¬
zug Kurfürst Wilhelm's I. nach den sieben Jahren der im Ganzen den ma¬
teriellen Interessen des Landes nicht schädlichen Regierung König Jerome's
von Westphalen nennen. Und wie innig die Hessen an ihren heimathlichen
Bergen hängen, hat wohl am rührendsten I. Grimm in jenen einfachen
Worten ausgesprochen, in denen er mitten in einer trockenen wissenschaftlichen
Auseinandersetzung es als ganz selbstverständlich bezeichnet, daß, wenn er
aus Hessen und Hessisches zu sprechen komme, er weitläufiger werden müsse
und wohl auch eine lebhaftere Bewegung sein Gemüth ergreife.

Aber was war seit 18S0 aus diesem hessischen Patriotismus geworden?
Die Liebe zu den Bergen und Wäldern, den schmalen Wiesengründen mit
den murmelnden Bächen war so wenig verschwunden, wie die Freude an
alten Sagen, Märchen und Geschichten, die sich hier wie kaum irgendwo
anders in Deutschland aus der Urzeit unseres stets an demselben Orte se߬
haften Volkes unversehrt erhalten haben. Die alten hessischen Krieger er¬
zählten ihren Enkeln und Urenkeln von ihren tapferen Thaten in Schottland,
Amerika, im siebenjährigen Kriege, in Spanien und Rußland und Frankreich
und von den noch größeren ihrer Väter in aller Herren Länder. Von der


Hessen 1866 preußischer gesinnt war, als man 1869 ist. Die Erklärung die¬
ser Thatsache soll den Gegenstand meiner Briefe bilden.

Die Zustände Hessens vor 1866 sind bekannt genug. Wir besaßen eine
Verfassung, die nicht als Product einer revolutionairen Bewegung, son¬
dern durch freie Vereinbarung von Fürst und Volk zu Stande gekommen
war. Unser Beamtenstand war aus größtentheils tüchtig gebildeten, ehren¬
haften Männern zusammengesetzt, die durch alle ihre persönlichen Interessen
darauf hingewiesen waren, die Verfassung aufrecht zu erhalten und zu schützen.
Unser Volk ist nichts weniger als neuerungssüchtig und von revolutionairen
Leidenschaften erfüllt. Viel eher kann man es eines Mangels an Initiative
in allen politischen und socialen Fragen zeihen. Der jetzt verstorbene Literar¬
historiker A. Vilmar, der Hessen und seine Geschichte wie wenige gekannt hat,
bemerkte einmal in früherer Zeit, wo ihn sein religiöser und polirischer Fa¬
natismus noch nicht ganz unempfindlich gegen die Wahrheit gemacht hatte,
über die Hessen in dieser Beziehung: „Wenige Stämme unseres Volkes hallen
längere Zeit in größerer Abgeschiedenheit verharrt, als der hessische, so daß
dieselben Charakrerzüge, die wir an den Hessen des fünfzehnten und sechszehn¬
ten Jahrhunderts finden, im Wesentlichen auch an den Hessen des neunzehn¬
ten Jahrhunderts wahrgenommen werden." Wollte man nur die zwei Er¬
eignisse aus dem Leben des hessischen Volkes im sechszehnten und neunzehn¬
ten Jahrhunderts herausgreifen/ die die tiefste Bewegung seiner Seele in
diesen Jahrhunderten hervorgerufen hatten, so müßte man die Rückkehr
Philipp's des Großmüthigen aus der Gefangenschaft Karl's V. und den Ein¬
zug Kurfürst Wilhelm's I. nach den sieben Jahren der im Ganzen den ma¬
teriellen Interessen des Landes nicht schädlichen Regierung König Jerome's
von Westphalen nennen. Und wie innig die Hessen an ihren heimathlichen
Bergen hängen, hat wohl am rührendsten I. Grimm in jenen einfachen
Worten ausgesprochen, in denen er mitten in einer trockenen wissenschaftlichen
Auseinandersetzung es als ganz selbstverständlich bezeichnet, daß, wenn er
aus Hessen und Hessisches zu sprechen komme, er weitläufiger werden müsse
und wohl auch eine lebhaftere Bewegung sein Gemüth ergreife.

Aber was war seit 18S0 aus diesem hessischen Patriotismus geworden?
Die Liebe zu den Bergen und Wäldern, den schmalen Wiesengründen mit
den murmelnden Bächen war so wenig verschwunden, wie die Freude an
alten Sagen, Märchen und Geschichten, die sich hier wie kaum irgendwo
anders in Deutschland aus der Urzeit unseres stets an demselben Orte se߬
haften Volkes unversehrt erhalten haben. Die alten hessischen Krieger er¬
zählten ihren Enkeln und Urenkeln von ihren tapferen Thaten in Schottland,
Amerika, im siebenjährigen Kriege, in Spanien und Rußland und Frankreich
und von den noch größeren ihrer Väter in aller Herren Länder. Von der


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[0312] Hessen 1866 preußischer gesinnt war, als man 1869 ist. Die Erklärung die¬ ser Thatsache soll den Gegenstand meiner Briefe bilden. Die Zustände Hessens vor 1866 sind bekannt genug. Wir besaßen eine Verfassung, die nicht als Product einer revolutionairen Bewegung, son¬ dern durch freie Vereinbarung von Fürst und Volk zu Stande gekommen war. Unser Beamtenstand war aus größtentheils tüchtig gebildeten, ehren¬ haften Männern zusammengesetzt, die durch alle ihre persönlichen Interessen darauf hingewiesen waren, die Verfassung aufrecht zu erhalten und zu schützen. Unser Volk ist nichts weniger als neuerungssüchtig und von revolutionairen Leidenschaften erfüllt. Viel eher kann man es eines Mangels an Initiative in allen politischen und socialen Fragen zeihen. Der jetzt verstorbene Literar¬ historiker A. Vilmar, der Hessen und seine Geschichte wie wenige gekannt hat, bemerkte einmal in früherer Zeit, wo ihn sein religiöser und polirischer Fa¬ natismus noch nicht ganz unempfindlich gegen die Wahrheit gemacht hatte, über die Hessen in dieser Beziehung: „Wenige Stämme unseres Volkes hallen längere Zeit in größerer Abgeschiedenheit verharrt, als der hessische, so daß dieselben Charakrerzüge, die wir an den Hessen des fünfzehnten und sechszehn¬ ten Jahrhunderts finden, im Wesentlichen auch an den Hessen des neunzehn¬ ten Jahrhunderts wahrgenommen werden." Wollte man nur die zwei Er¬ eignisse aus dem Leben des hessischen Volkes im sechszehnten und neunzehn¬ ten Jahrhunderts herausgreifen/ die die tiefste Bewegung seiner Seele in diesen Jahrhunderten hervorgerufen hatten, so müßte man die Rückkehr Philipp's des Großmüthigen aus der Gefangenschaft Karl's V. und den Ein¬ zug Kurfürst Wilhelm's I. nach den sieben Jahren der im Ganzen den ma¬ teriellen Interessen des Landes nicht schädlichen Regierung König Jerome's von Westphalen nennen. Und wie innig die Hessen an ihren heimathlichen Bergen hängen, hat wohl am rührendsten I. Grimm in jenen einfachen Worten ausgesprochen, in denen er mitten in einer trockenen wissenschaftlichen Auseinandersetzung es als ganz selbstverständlich bezeichnet, daß, wenn er aus Hessen und Hessisches zu sprechen komme, er weitläufiger werden müsse und wohl auch eine lebhaftere Bewegung sein Gemüth ergreife. Aber was war seit 18S0 aus diesem hessischen Patriotismus geworden? Die Liebe zu den Bergen und Wäldern, den schmalen Wiesengründen mit den murmelnden Bächen war so wenig verschwunden, wie die Freude an alten Sagen, Märchen und Geschichten, die sich hier wie kaum irgendwo anders in Deutschland aus der Urzeit unseres stets an demselben Orte se߬ haften Volkes unversehrt erhalten haben. Die alten hessischen Krieger er¬ zählten ihren Enkeln und Urenkeln von ihren tapferen Thaten in Schottland, Amerika, im siebenjährigen Kriege, in Spanien und Rußland und Frankreich und von den noch größeren ihrer Väter in aller Herren Länder. Von der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/312>, abgerufen am 24.07.2024.