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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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ralidee gegeben ist. Dies lehrt schon ein einfacher Blick auf das Selbster¬
haltungsrecht des Staates. Dem einzelnen Menschen ist die Pflicht der Auf¬
opferung für die höchsten sittlichen Zwecke vorgeschrieben, dem Staate niemals,
weil seine Erhaltung die ideelle Grundlage der rechtlichen Existenz aller Staats¬
bürger ist. Nur der eine Fall ist ausgenommen, wenn ein Staat seine Auf¬
lösung beschließt, um sich in einen rechtlich und national homogenen Orga¬
nismus höheren Ranges aufzulösen. Der Act der Auflösung eines kleineren
Staatswesens zu Gunsten der nationalen Einheit kann in Wahrheit als Act
der Selbsterhaltung im sittlichen Sinn gedacht werden. Sprechen wir aber,
abgesehen hiervon, von der Selbsterhaltung des Staates im gewöhnlichen
Wortsinn, so liegt die sittliche Nothwendigkeit derselben in seiner allgemeinen
menschlichen Culturaufgabe, welche ohne Gliederung der Völker im Staats¬
körper nach unserem Bewußtsein nicht lösbar erscheint. Die letzten Gründe
der staatlichen Moral liegen somit in den Ideen der Menschheit und der
mit ihr innig zusammenhängenden Idee der Nationalität. Der Staat muß
sich erhalten und aus dieser Aufgabe heraus empfangen auch die Mittel der
staatlichen Selbsterhaltung ihren sittlichen Charakter. Dieser Zweck heiligt
alle dazu nothwendigen und unerläßlichen Mittel, auch den Krieg und im
Krieg die Lüge, welche die bürgerliche Moral verwirft. Wo immer wir an
sittliche Vorstellungen in der Politik herantreten, ^finden wir, daß dieselben
mit den Zweckbestimmungen des Staates auf das engste verbunden sind und
nur in diesem Zusammenhang erfaßt werden können. Das Princip des mo¬
dernen Staatsrechts, sein Grundgedanke ist die Verpflichtung, die Staatsge¬
walt im Sinne der Staatszwecke zu bethätigen.

Es ist auffallend genug, daß unter den namhaftesten Staatsrechtslehrern
der Gegenwart über die anscheinend so einfache Frage nach der Bestimmung
des Staates die abweichendsten Auffassungen gang und gäbe sind. Die auf¬
gestellten Definitionen leiden außerdem darunter, daß sie ohne besondere Be¬
ziehung zu dem politischen Entwickelungsgang des gegenwärtigen Zeitalters
entworfen sind. Dadurch erhalten sie eine Unbestimmtheit, die Gerber (Grund¬
züge eines Systems des deutschen Staatsrechts) sogar für unvermeidlich zu
halten scheint, wenn er hervorhebt, daß eine theoretische Bestimmung des
Staatszweckes sich immer nur in sehr allgemeinen Vorstellungen bewegen
könne. Wäre dies zuzugeben, so würde es, wie Holtzendorff mit Recht be¬
merkt, besser sein den Versuch ganz fallen zu lassen. Für die Politik ist Be¬
stimmtheit und Klarheit der Zweckvorstellungen ein unumgänglich nothwen¬
diges Erforderniß.

Vor allen Dingen dürfte die Staatslehre sich vor eigenmächtigen Con-
structionen zu hüten haben. Die realen Zwecke des staatlichen Lebens
können nur aus dem Bewußtsein der Nationen selbst hergeleitet werden. Der


ralidee gegeben ist. Dies lehrt schon ein einfacher Blick auf das Selbster¬
haltungsrecht des Staates. Dem einzelnen Menschen ist die Pflicht der Auf¬
opferung für die höchsten sittlichen Zwecke vorgeschrieben, dem Staate niemals,
weil seine Erhaltung die ideelle Grundlage der rechtlichen Existenz aller Staats¬
bürger ist. Nur der eine Fall ist ausgenommen, wenn ein Staat seine Auf¬
lösung beschließt, um sich in einen rechtlich und national homogenen Orga¬
nismus höheren Ranges aufzulösen. Der Act der Auflösung eines kleineren
Staatswesens zu Gunsten der nationalen Einheit kann in Wahrheit als Act
der Selbsterhaltung im sittlichen Sinn gedacht werden. Sprechen wir aber,
abgesehen hiervon, von der Selbsterhaltung des Staates im gewöhnlichen
Wortsinn, so liegt die sittliche Nothwendigkeit derselben in seiner allgemeinen
menschlichen Culturaufgabe, welche ohne Gliederung der Völker im Staats¬
körper nach unserem Bewußtsein nicht lösbar erscheint. Die letzten Gründe
der staatlichen Moral liegen somit in den Ideen der Menschheit und der
mit ihr innig zusammenhängenden Idee der Nationalität. Der Staat muß
sich erhalten und aus dieser Aufgabe heraus empfangen auch die Mittel der
staatlichen Selbsterhaltung ihren sittlichen Charakter. Dieser Zweck heiligt
alle dazu nothwendigen und unerläßlichen Mittel, auch den Krieg und im
Krieg die Lüge, welche die bürgerliche Moral verwirft. Wo immer wir an
sittliche Vorstellungen in der Politik herantreten, ^finden wir, daß dieselben
mit den Zweckbestimmungen des Staates auf das engste verbunden sind und
nur in diesem Zusammenhang erfaßt werden können. Das Princip des mo¬
dernen Staatsrechts, sein Grundgedanke ist die Verpflichtung, die Staatsge¬
walt im Sinne der Staatszwecke zu bethätigen.

Es ist auffallend genug, daß unter den namhaftesten Staatsrechtslehrern
der Gegenwart über die anscheinend so einfache Frage nach der Bestimmung
des Staates die abweichendsten Auffassungen gang und gäbe sind. Die auf¬
gestellten Definitionen leiden außerdem darunter, daß sie ohne besondere Be¬
ziehung zu dem politischen Entwickelungsgang des gegenwärtigen Zeitalters
entworfen sind. Dadurch erhalten sie eine Unbestimmtheit, die Gerber (Grund¬
züge eines Systems des deutschen Staatsrechts) sogar für unvermeidlich zu
halten scheint, wenn er hervorhebt, daß eine theoretische Bestimmung des
Staatszweckes sich immer nur in sehr allgemeinen Vorstellungen bewegen
könne. Wäre dies zuzugeben, so würde es, wie Holtzendorff mit Recht be¬
merkt, besser sein den Versuch ganz fallen zu lassen. Für die Politik ist Be¬
stimmtheit und Klarheit der Zweckvorstellungen ein unumgänglich nothwen¬
diges Erforderniß.

Vor allen Dingen dürfte die Staatslehre sich vor eigenmächtigen Con-
structionen zu hüten haben. Die realen Zwecke des staatlichen Lebens
können nur aus dem Bewußtsein der Nationen selbst hergeleitet werden. Der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/30>, abgerufen am 24.07.2024.