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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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Der völlige Mangel an richterlicher Bildung ist in diesem Lande natürlich.
Der Koran ist bei den Muhamedanern einzige Quelle des Rechts. Unglück¬
licherweise enthält derselbe nur sehr ungenügende Rechtsbestimmungen, und
so machte sich von Anfang an das Bedürfniß nach Auslegung und Ergänzung
seiner Bestimmungen geltend. Die unmittelbar vom Propheten oder dessen
Jüngern herstammenden Ueberlieferungen (Sunneh) ergänzen zunächst. Wo
auch sie nicht ausreichen, gelten die Aussprüche der vier großen Imaus, der
Stifter der vier orthodoxen Seelen des Islam. Allein auch dies genügte
nicht. Da jede Systematik in den Rechtsbestimmungen des Islam fehlt, und
keinerlei Gesetzbuch existirt, dessen Sätze eine unabänderliche Richtschnur der
Beurtheilung gäben, so entstanden unaufhörlich sachkundige Auslegungen;
unzählige Bücher wurden geschrieben und Entscheidungen angesehener Rechts¬
kundiger gesammelt, sodaß die arabische Literatur viele Hunderte von Bänden
solcher Rechtsbücher aufweist. Auch hier fehlt Systematik und Methode.
Zwar sucht ein Theil derselben die Rechtssätze nach den Anschauungen des
Korans in eine gewisse Ordnung zu bringen. Aber das System des Korans
ist das einer absoluten Theokratie, welches eine rationelle Methode des Rechts
gar nicht zuläßt. Der weitaus größere Theil jener Literatur besteht aus
Betrachtungen einzelner Rechtsfälle und aus Rechtssprüchen angesehener
Richter. Diese Rechtssprüche auf ähnliche Fälle anzuwenden, ist das Ge¬
schäft des Richters. Da aber natürlich fast nie ein Fall identisch mit einem
früheren ist, überdies bei völlig veränderten Zuständen unvorhergesehene Fälle
häufig sind, so ist es unvermeidlich, daß selbst bei gewissenhaften Richtern
die unrichtigsten Urtheile massenhaft vorkommen müssen. -- Endlich ist nach
dem Geist des Koran jede Gesetzgebung, welche nicht aus dem letzteren fließt,
unerlaubt. Die in diesem Jahrhundert 1839 in der Türkei (Tanzimati,
Fernau von Gülhaneh) und 1855 in Aegypten nothgedrungen eingeführten
Gesetzbücher sind daher eigentlich Verletzungen der muhamedanischen Religion.
Das ägyptische Strafgesetz (von 1855) zeichnet sich überdies durch größte
Unvollständigkeit und Willkür seiner Bestimmungen aus.

Eine Folge des elenden Zustandes arabischer Rechtsverhältnisse ist, daß
in den Rechtsschulen irgend ein Theil dieser Bücher vorgenommen und mehr
oder weniger auswendig gelernt wird. Natürlich ist es ganz unmöglich, auch
nur einen mäßigen Theil dieses endlosen Materials in sich aufzunehmen.
Denn die Systemlosigkeit dieser Literatur verhindert auch jede Methode des
Unterrichts. Ohne Vorbereitung beginnt der Schüler damit, alle Lehren
und Entscheidungen über einzelne Punkte, z. B. Verkauf. Miethe, Gesell¬
schaft u. f. w., einzeln auswendig zu lernen. Die Studirenden sind meistens
schlecht unterrichtet, oft ohne genügende Kenntniß des Schristarcibischen, in


Der völlige Mangel an richterlicher Bildung ist in diesem Lande natürlich.
Der Koran ist bei den Muhamedanern einzige Quelle des Rechts. Unglück¬
licherweise enthält derselbe nur sehr ungenügende Rechtsbestimmungen, und
so machte sich von Anfang an das Bedürfniß nach Auslegung und Ergänzung
seiner Bestimmungen geltend. Die unmittelbar vom Propheten oder dessen
Jüngern herstammenden Ueberlieferungen (Sunneh) ergänzen zunächst. Wo
auch sie nicht ausreichen, gelten die Aussprüche der vier großen Imaus, der
Stifter der vier orthodoxen Seelen des Islam. Allein auch dies genügte
nicht. Da jede Systematik in den Rechtsbestimmungen des Islam fehlt, und
keinerlei Gesetzbuch existirt, dessen Sätze eine unabänderliche Richtschnur der
Beurtheilung gäben, so entstanden unaufhörlich sachkundige Auslegungen;
unzählige Bücher wurden geschrieben und Entscheidungen angesehener Rechts¬
kundiger gesammelt, sodaß die arabische Literatur viele Hunderte von Bänden
solcher Rechtsbücher aufweist. Auch hier fehlt Systematik und Methode.
Zwar sucht ein Theil derselben die Rechtssätze nach den Anschauungen des
Korans in eine gewisse Ordnung zu bringen. Aber das System des Korans
ist das einer absoluten Theokratie, welches eine rationelle Methode des Rechts
gar nicht zuläßt. Der weitaus größere Theil jener Literatur besteht aus
Betrachtungen einzelner Rechtsfälle und aus Rechtssprüchen angesehener
Richter. Diese Rechtssprüche auf ähnliche Fälle anzuwenden, ist das Ge¬
schäft des Richters. Da aber natürlich fast nie ein Fall identisch mit einem
früheren ist, überdies bei völlig veränderten Zuständen unvorhergesehene Fälle
häufig sind, so ist es unvermeidlich, daß selbst bei gewissenhaften Richtern
die unrichtigsten Urtheile massenhaft vorkommen müssen. — Endlich ist nach
dem Geist des Koran jede Gesetzgebung, welche nicht aus dem letzteren fließt,
unerlaubt. Die in diesem Jahrhundert 1839 in der Türkei (Tanzimati,
Fernau von Gülhaneh) und 1855 in Aegypten nothgedrungen eingeführten
Gesetzbücher sind daher eigentlich Verletzungen der muhamedanischen Religion.
Das ägyptische Strafgesetz (von 1855) zeichnet sich überdies durch größte
Unvollständigkeit und Willkür seiner Bestimmungen aus.

Eine Folge des elenden Zustandes arabischer Rechtsverhältnisse ist, daß
in den Rechtsschulen irgend ein Theil dieser Bücher vorgenommen und mehr
oder weniger auswendig gelernt wird. Natürlich ist es ganz unmöglich, auch
nur einen mäßigen Theil dieses endlosen Materials in sich aufzunehmen.
Denn die Systemlosigkeit dieser Literatur verhindert auch jede Methode des
Unterrichts. Ohne Vorbereitung beginnt der Schüler damit, alle Lehren
und Entscheidungen über einzelne Punkte, z. B. Verkauf. Miethe, Gesell¬
schaft u. f. w., einzeln auswendig zu lernen. Die Studirenden sind meistens
schlecht unterrichtet, oft ohne genügende Kenntniß des Schristarcibischen, in


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[0296] Der völlige Mangel an richterlicher Bildung ist in diesem Lande natürlich. Der Koran ist bei den Muhamedanern einzige Quelle des Rechts. Unglück¬ licherweise enthält derselbe nur sehr ungenügende Rechtsbestimmungen, und so machte sich von Anfang an das Bedürfniß nach Auslegung und Ergänzung seiner Bestimmungen geltend. Die unmittelbar vom Propheten oder dessen Jüngern herstammenden Ueberlieferungen (Sunneh) ergänzen zunächst. Wo auch sie nicht ausreichen, gelten die Aussprüche der vier großen Imaus, der Stifter der vier orthodoxen Seelen des Islam. Allein auch dies genügte nicht. Da jede Systematik in den Rechtsbestimmungen des Islam fehlt, und keinerlei Gesetzbuch existirt, dessen Sätze eine unabänderliche Richtschnur der Beurtheilung gäben, so entstanden unaufhörlich sachkundige Auslegungen; unzählige Bücher wurden geschrieben und Entscheidungen angesehener Rechts¬ kundiger gesammelt, sodaß die arabische Literatur viele Hunderte von Bänden solcher Rechtsbücher aufweist. Auch hier fehlt Systematik und Methode. Zwar sucht ein Theil derselben die Rechtssätze nach den Anschauungen des Korans in eine gewisse Ordnung zu bringen. Aber das System des Korans ist das einer absoluten Theokratie, welches eine rationelle Methode des Rechts gar nicht zuläßt. Der weitaus größere Theil jener Literatur besteht aus Betrachtungen einzelner Rechtsfälle und aus Rechtssprüchen angesehener Richter. Diese Rechtssprüche auf ähnliche Fälle anzuwenden, ist das Ge¬ schäft des Richters. Da aber natürlich fast nie ein Fall identisch mit einem früheren ist, überdies bei völlig veränderten Zuständen unvorhergesehene Fälle häufig sind, so ist es unvermeidlich, daß selbst bei gewissenhaften Richtern die unrichtigsten Urtheile massenhaft vorkommen müssen. — Endlich ist nach dem Geist des Koran jede Gesetzgebung, welche nicht aus dem letzteren fließt, unerlaubt. Die in diesem Jahrhundert 1839 in der Türkei (Tanzimati, Fernau von Gülhaneh) und 1855 in Aegypten nothgedrungen eingeführten Gesetzbücher sind daher eigentlich Verletzungen der muhamedanischen Religion. Das ägyptische Strafgesetz (von 1855) zeichnet sich überdies durch größte Unvollständigkeit und Willkür seiner Bestimmungen aus. Eine Folge des elenden Zustandes arabischer Rechtsverhältnisse ist, daß in den Rechtsschulen irgend ein Theil dieser Bücher vorgenommen und mehr oder weniger auswendig gelernt wird. Natürlich ist es ganz unmöglich, auch nur einen mäßigen Theil dieses endlosen Materials in sich aufzunehmen. Denn die Systemlosigkeit dieser Literatur verhindert auch jede Methode des Unterrichts. Ohne Vorbereitung beginnt der Schüler damit, alle Lehren und Entscheidungen über einzelne Punkte, z. B. Verkauf. Miethe, Gesell¬ schaft u. f. w., einzeln auswendig zu lernen. Die Studirenden sind meistens schlecht unterrichtet, oft ohne genügende Kenntniß des Schristarcibischen, in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/296>, abgerufen am 04.07.2024.