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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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die Ansicht aufstellen, die Politik sei "mehr Kunst als Wissenschaft", oder
behaupten, die Politik könne nur als Staatskunst genommen werden, es
gebe gar keine Wissenschaft der Politik. Diese Vorfrage ist natürlich für ein
wissenschaftliches Handbuch der Politik entscheidend. Holtzendorf widmet ihr
eine ziemlich eingehende Erörterung. Er erinnert daran, daß jede Wissen¬
schaft, sobald es der Darstellung ihrer Wahrheiten im Leben gilt, zur Kunst
wird. Andererseits findet jede Kunst, soweit sie diesen Namen verdient,
Grundsätze und innerlich zusammenhängende, wissenschaftlich geordnete Erfah¬
rungen vor, deren sich die künstlerisch schaffenden Personen nicht entschlagen
können. Wenn man behauptet, die Staatshandlungen seien unbedingt nur
auf persönliche Anlage des Politikers zurückzuführen, so sagt man damit
nichts Anderes, als daß Akustik für den Musiker. Optik für den Maler gleich¬
gültige Dinge seien.

Wenn dies zuzugeben ist, so ist andererseits natürlich nicht der An¬
spruch zu erheben, daß die Politik als Wissenschaft die unendliche Mannig¬
faltigkeit der Fälle, die für den Staatsmann von entscheidender Bedeutung
sein können, zu übersehen und zu erschöpfen im Stande sei. Wie man in
der Rechtswissenschaft von dem vergeblichen Streben zurückgekommen ist, alle
Vorkommnisse des Lebens mit gesetzgeberischer Voraussicht erschöpfen zu
wollen, so hat das Gleiche von der politischen Theorie zu gelten.

Nicht ohne Interesse ist das Charakterbild, welches der Verfasser in dem
zweiten Capitel seines Werkes: "Die Politik als Staatskunst" von dem
Staatsmann in "großem Styl" entwirft. Er sagt: "Die Merkmale einer zur
politischen Handlung in größerem Maßstabe angelegten Persönlichkeit treten
in mehreren Punkten hervor; zumeist darin, daß deren Charakter anscheinend
entgegenstehende Eigenschaften mit einander verbinden und gleichzeitig in sich
enthalten muß: die Festigkeit in der Entschließung und die Beweglichkeit
in der Ausführung des Beschlossenen. Vermöge jener ersten Eigenschaft
wird es möglich, das als richtig Erkannte inmitten der Schwankungen An-
derer festzuhalten, den unausbleiblichen Widerspruch der Zweifelnden und
Unentschiedenen zu ertragen, denjenigen zu widerstehen, welche am liebsten
Alles gehen lassen möchten, weil sie eine persönliche Verantwortlichkeit für
mißlungene Unternehmungen scheuen und, weil sie Alles bedenklich finden,
im Streit der Meinungen grundsätzlich die Passivität als das vortheilhafteste
Verhalten zu empfehlen pflegen. Andererseits bedarf es für das Gelingen
tief durchdachter Pläne jener Dehnbarkeit des Willens, welche sich jeder ver¬
änderten Thatsache anpaßt, selbst die nicht vorausgesehenen Umstände, sobald
sie eintreten in den Zusammenhang der Dinge, je nach ihrem störenden oder
förderlichen Einfluß sofort einreiht. Nur so ist denkbar, daß der Wille wäh¬
rend der^ Ausführung einer hinreichend erwogenen Maßregel den Thatsachen


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die Ansicht aufstellen, die Politik sei „mehr Kunst als Wissenschaft", oder
behaupten, die Politik könne nur als Staatskunst genommen werden, es
gebe gar keine Wissenschaft der Politik. Diese Vorfrage ist natürlich für ein
wissenschaftliches Handbuch der Politik entscheidend. Holtzendorf widmet ihr
eine ziemlich eingehende Erörterung. Er erinnert daran, daß jede Wissen¬
schaft, sobald es der Darstellung ihrer Wahrheiten im Leben gilt, zur Kunst
wird. Andererseits findet jede Kunst, soweit sie diesen Namen verdient,
Grundsätze und innerlich zusammenhängende, wissenschaftlich geordnete Erfah¬
rungen vor, deren sich die künstlerisch schaffenden Personen nicht entschlagen
können. Wenn man behauptet, die Staatshandlungen seien unbedingt nur
auf persönliche Anlage des Politikers zurückzuführen, so sagt man damit
nichts Anderes, als daß Akustik für den Musiker. Optik für den Maler gleich¬
gültige Dinge seien.

Wenn dies zuzugeben ist, so ist andererseits natürlich nicht der An¬
spruch zu erheben, daß die Politik als Wissenschaft die unendliche Mannig¬
faltigkeit der Fälle, die für den Staatsmann von entscheidender Bedeutung
sein können, zu übersehen und zu erschöpfen im Stande sei. Wie man in
der Rechtswissenschaft von dem vergeblichen Streben zurückgekommen ist, alle
Vorkommnisse des Lebens mit gesetzgeberischer Voraussicht erschöpfen zu
wollen, so hat das Gleiche von der politischen Theorie zu gelten.

Nicht ohne Interesse ist das Charakterbild, welches der Verfasser in dem
zweiten Capitel seines Werkes: „Die Politik als Staatskunst" von dem
Staatsmann in „großem Styl" entwirft. Er sagt: „Die Merkmale einer zur
politischen Handlung in größerem Maßstabe angelegten Persönlichkeit treten
in mehreren Punkten hervor; zumeist darin, daß deren Charakter anscheinend
entgegenstehende Eigenschaften mit einander verbinden und gleichzeitig in sich
enthalten muß: die Festigkeit in der Entschließung und die Beweglichkeit
in der Ausführung des Beschlossenen. Vermöge jener ersten Eigenschaft
wird es möglich, das als richtig Erkannte inmitten der Schwankungen An-
derer festzuhalten, den unausbleiblichen Widerspruch der Zweifelnden und
Unentschiedenen zu ertragen, denjenigen zu widerstehen, welche am liebsten
Alles gehen lassen möchten, weil sie eine persönliche Verantwortlichkeit für
mißlungene Unternehmungen scheuen und, weil sie Alles bedenklich finden,
im Streit der Meinungen grundsätzlich die Passivität als das vortheilhafteste
Verhalten zu empfehlen pflegen. Andererseits bedarf es für das Gelingen
tief durchdachter Pläne jener Dehnbarkeit des Willens, welche sich jeder ver¬
änderten Thatsache anpaßt, selbst die nicht vorausgesehenen Umstände, sobald
sie eintreten in den Zusammenhang der Dinge, je nach ihrem störenden oder
förderlichen Einfluß sofort einreiht. Nur so ist denkbar, daß der Wille wäh¬
rend der^ Ausführung einer hinreichend erwogenen Maßregel den Thatsachen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/27>, abgerufen am 24.07.2024.