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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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worin die Lostrennung von dem gemeinsamen Provinzialverbande mit Han¬
nover und Zulegung zur Provinz Westphalen erstrebt wurde. In Petitio¬
nen und in der Presse wurde sofortige Versetzung aller hannoverscher Be¬
amten gefordert; viele Städte baten um Zutheilung von Garnisonen, kurz
eine Sturmfluth particularistischer Wünsche und Leidenschaften brach her¬
vor. Als nun die preußische Regierung, unbeirrt durch alle Petitionen
und persönlichen Begierden, ihren ruhigen Weg weiter ging und mit ge¬
wohnter Energie die allgemeine Wehrpflicht und die preußische Steuergesetz¬
gebung einführte, überhaupt die Verwaltung kräftig anzog und alle neu er¬
worbenen Landestheilen mit gleichem Maße wog, wirklichen Bedürfnissen
Rechnung trug, eingebildete dagegen oder unerfüllbare unbeachtet ließ; als
namentlich für Ostfriesland keine der erhofften Begünstigungen eintrat, ja
anscheinend sogar Hannover weit mehr Berücksichtigung fand; als die weni¬
gen nach Ostfriesland geschickten altpreußischen Beamten und selbst die Gar¬
nison gerade den stolzen Emder Kaufmann häufig verletzten, sodaß Emden
und Aurich die Lasten und Unbequemlichkeiten der Neuerung weit stärker
empfanden, als ihren Nutzen, kurz als die freilich auch rauhe Wirklich¬
keit an Stelle der Phantasievorstellung trat, da wurde auch diesen hand¬
festen Realisten die Laune kraus, die öffentliche Meinung kühlte sich ab;
man fing wieder an zu prüfen und zu vergleichen und überzeugte sich, daß
materielle Vortheile von der Einverleibung in Preußen so unmittelbar
und ohne eigenes Zuthun nicht zu erwarten seien. Dieser Ernüchterungs¬
proceß der Volksabstimmung wurde geschickt von den wenigen welfisch - gesinn¬
ten Mitgliedern der Ritterschaft, den Grafen von Knipphausen und von Wede.-
und drei, vier anderen ausgebeutet; etliche Leute -- natürlich von Niemand
beauftragt -- wurden zur Bezeugung der ostfriesischen Ergebenheit von
den Rittern im Triumph nach Hietzing geführt; einige umherziehende
Händler machten Geschäfte mit patriotischen Pfeifenköpfen und ähnlichen de¬
monstrativen Schaustücken, und bei der Reichstagswahl von 1867 gelang es
sogar, für den welfischen Candidaren, den früheren hannoverschen Landdrosten
Nieper, einige Tausend Stimmen -- allerdings zumeist nur auf den aus¬
gedehnten Besitzungen des Grafen Knipphausen -- zu gewinnen.

Die Regierung war besonnen genug, den eine kurze Zeit mit wirklich
staunenswerther Dreistigkeit betriebenen welfischen Agitationen in Ostfries¬
land freiesten Spielraum zu lassen, und da sie nicht durch den falschen Schein
des Märtyrerthums unterstützt wurden, schliefen sie in kurzer Zeit wieder
ein, denn der gesunde Sinn des ostfriesischen Volkes im großen Ganzen wird
sich in der nationalen Idee und der Anhänglichkeit an Preußen nie auf die
Dauer irre machen lassen. So ist denn jetzt der ruhige zähe Charakter des
Friesen wieder in sein Recht getreten. Unbedingtes Festhalten an Preußen


worin die Lostrennung von dem gemeinsamen Provinzialverbande mit Han¬
nover und Zulegung zur Provinz Westphalen erstrebt wurde. In Petitio¬
nen und in der Presse wurde sofortige Versetzung aller hannoverscher Be¬
amten gefordert; viele Städte baten um Zutheilung von Garnisonen, kurz
eine Sturmfluth particularistischer Wünsche und Leidenschaften brach her¬
vor. Als nun die preußische Regierung, unbeirrt durch alle Petitionen
und persönlichen Begierden, ihren ruhigen Weg weiter ging und mit ge¬
wohnter Energie die allgemeine Wehrpflicht und die preußische Steuergesetz¬
gebung einführte, überhaupt die Verwaltung kräftig anzog und alle neu er¬
worbenen Landestheilen mit gleichem Maße wog, wirklichen Bedürfnissen
Rechnung trug, eingebildete dagegen oder unerfüllbare unbeachtet ließ; als
namentlich für Ostfriesland keine der erhofften Begünstigungen eintrat, ja
anscheinend sogar Hannover weit mehr Berücksichtigung fand; als die weni¬
gen nach Ostfriesland geschickten altpreußischen Beamten und selbst die Gar¬
nison gerade den stolzen Emder Kaufmann häufig verletzten, sodaß Emden
und Aurich die Lasten und Unbequemlichkeiten der Neuerung weit stärker
empfanden, als ihren Nutzen, kurz als die freilich auch rauhe Wirklich¬
keit an Stelle der Phantasievorstellung trat, da wurde auch diesen hand¬
festen Realisten die Laune kraus, die öffentliche Meinung kühlte sich ab;
man fing wieder an zu prüfen und zu vergleichen und überzeugte sich, daß
materielle Vortheile von der Einverleibung in Preußen so unmittelbar
und ohne eigenes Zuthun nicht zu erwarten seien. Dieser Ernüchterungs¬
proceß der Volksabstimmung wurde geschickt von den wenigen welfisch - gesinn¬
ten Mitgliedern der Ritterschaft, den Grafen von Knipphausen und von Wede.-
und drei, vier anderen ausgebeutet; etliche Leute — natürlich von Niemand
beauftragt — wurden zur Bezeugung der ostfriesischen Ergebenheit von
den Rittern im Triumph nach Hietzing geführt; einige umherziehende
Händler machten Geschäfte mit patriotischen Pfeifenköpfen und ähnlichen de¬
monstrativen Schaustücken, und bei der Reichstagswahl von 1867 gelang es
sogar, für den welfischen Candidaren, den früheren hannoverschen Landdrosten
Nieper, einige Tausend Stimmen — allerdings zumeist nur auf den aus¬
gedehnten Besitzungen des Grafen Knipphausen — zu gewinnen.

Die Regierung war besonnen genug, den eine kurze Zeit mit wirklich
staunenswerther Dreistigkeit betriebenen welfischen Agitationen in Ostfries¬
land freiesten Spielraum zu lassen, und da sie nicht durch den falschen Schein
des Märtyrerthums unterstützt wurden, schliefen sie in kurzer Zeit wieder
ein, denn der gesunde Sinn des ostfriesischen Volkes im großen Ganzen wird
sich in der nationalen Idee und der Anhänglichkeit an Preußen nie auf die
Dauer irre machen lassen. So ist denn jetzt der ruhige zähe Charakter des
Friesen wieder in sein Recht getreten. Unbedingtes Festhalten an Preußen


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[0246] worin die Lostrennung von dem gemeinsamen Provinzialverbande mit Han¬ nover und Zulegung zur Provinz Westphalen erstrebt wurde. In Petitio¬ nen und in der Presse wurde sofortige Versetzung aller hannoverscher Be¬ amten gefordert; viele Städte baten um Zutheilung von Garnisonen, kurz eine Sturmfluth particularistischer Wünsche und Leidenschaften brach her¬ vor. Als nun die preußische Regierung, unbeirrt durch alle Petitionen und persönlichen Begierden, ihren ruhigen Weg weiter ging und mit ge¬ wohnter Energie die allgemeine Wehrpflicht und die preußische Steuergesetz¬ gebung einführte, überhaupt die Verwaltung kräftig anzog und alle neu er¬ worbenen Landestheilen mit gleichem Maße wog, wirklichen Bedürfnissen Rechnung trug, eingebildete dagegen oder unerfüllbare unbeachtet ließ; als namentlich für Ostfriesland keine der erhofften Begünstigungen eintrat, ja anscheinend sogar Hannover weit mehr Berücksichtigung fand; als die weni¬ gen nach Ostfriesland geschickten altpreußischen Beamten und selbst die Gar¬ nison gerade den stolzen Emder Kaufmann häufig verletzten, sodaß Emden und Aurich die Lasten und Unbequemlichkeiten der Neuerung weit stärker empfanden, als ihren Nutzen, kurz als die freilich auch rauhe Wirklich¬ keit an Stelle der Phantasievorstellung trat, da wurde auch diesen hand¬ festen Realisten die Laune kraus, die öffentliche Meinung kühlte sich ab; man fing wieder an zu prüfen und zu vergleichen und überzeugte sich, daß materielle Vortheile von der Einverleibung in Preußen so unmittelbar und ohne eigenes Zuthun nicht zu erwarten seien. Dieser Ernüchterungs¬ proceß der Volksabstimmung wurde geschickt von den wenigen welfisch - gesinn¬ ten Mitgliedern der Ritterschaft, den Grafen von Knipphausen und von Wede.- und drei, vier anderen ausgebeutet; etliche Leute — natürlich von Niemand beauftragt — wurden zur Bezeugung der ostfriesischen Ergebenheit von den Rittern im Triumph nach Hietzing geführt; einige umherziehende Händler machten Geschäfte mit patriotischen Pfeifenköpfen und ähnlichen de¬ monstrativen Schaustücken, und bei der Reichstagswahl von 1867 gelang es sogar, für den welfischen Candidaren, den früheren hannoverschen Landdrosten Nieper, einige Tausend Stimmen — allerdings zumeist nur auf den aus¬ gedehnten Besitzungen des Grafen Knipphausen — zu gewinnen. Die Regierung war besonnen genug, den eine kurze Zeit mit wirklich staunenswerther Dreistigkeit betriebenen welfischen Agitationen in Ostfries¬ land freiesten Spielraum zu lassen, und da sie nicht durch den falschen Schein des Märtyrerthums unterstützt wurden, schliefen sie in kurzer Zeit wieder ein, denn der gesunde Sinn des ostfriesischen Volkes im großen Ganzen wird sich in der nationalen Idee und der Anhänglichkeit an Preußen nie auf die Dauer irre machen lassen. So ist denn jetzt der ruhige zähe Charakter des Friesen wieder in sein Recht getreten. Unbedingtes Festhalten an Preußen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/246>, abgerufen am 04.07.2024.