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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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Oestreich gegenüber erinnerten, doch nicht so ganz vereinzelt. Gerade unter
den auswärtigen Diplomaten erhielt sich diese Tradition beständig oder kam
wenigstens bei einzelnen Anlässen wieder zu Tage. Sie schlummerte nur
gleichsam unter der Decke der östreichischen Freundschaft. Bemerkenswerth ist
besonders eine Depesche des Grafen Rossi, Gesandten in Se. Petersburg,
vom 24. Nov. 1839, in welcher es heißt: "Es ist unbestreitbar, daß früher
oder später durch die bloße Macht der Ereignisse die Suprematie Oestreichs
in Italien sich brechen muß. Nicht weniger ist es Allen einleuchtend, daß
wir durch unsere Lage die natürlichen Erben des Einflusses sind, den diese
Macht auf der Halbinsel verlieren wird. Ganz abgesehen von der Frage der
Nationalität, versetzen uns die militairischen Bedingungen, welche der König
unserem Land zu verschaffen gewußt hat, und welche den Maßstab geben für
das, was unser Königreich mit erweiterten Grenzen sein könnte, in die Lage,
um unserer militairischen Bedeutung willen als die einzige wahre italienische
Nationalmacht betrachtet zu werden. Es ist darum im wohlverstandenen In¬
teresse des europäischen Gleichgewichts, daß Piemont eine Macht ersten
Ranges werde, welcher die innere Politik Italiens mit Ausschluß jeder frem¬
den Einmischung anvertraut und ein solcher Territorialbesitz angewiesen werde,
welcher es in den Stand setzt, jedem Angriff von außen die Spitze zu bie¬
ten." Der Gesandte hatte, wie aus dem weiteren Inhalt seiner Denkschrift
hervorgeht, in erster Linie die Eventualität eines Bruchs zwischen Rußland
und Oestreich im Auge, welcher Piemont günstige Aussichten eröffnen werde.

Sind so noch immer die Spuren jener Staatskunst vorhanden, welche
die piemontesische Diplomatie bis zum Jahr 1820 fast ausnahmslos ver¬
treten hatte, so finden wir, daß die Träger dieser Diplomatie fortwährend
aufs aufmerksamste die inneren Zustände der einzelnen italienischen Staaten
verfolgen. Schärfer erkennen sie die Mängel an dem fremden, als dem eige¬
nen Staatswesen. Die Gesandtschaftsberichte aus Rom und Neapel nament¬
lich enthalten eine rücksichtslose Kritik der dortigen Zustände; sie bestätigen
vollkommen, was die liberalen Schriftsteller darüber veröffentlicht haben
und sie geben schon in den dreißiger Jahren unverholen der Ueber¬
zeugung Ausdruck, daß diese Throne, ohne Halt in der Bevölkerung,
untergraben durch ein System unheilbarer Corruption, nothwendig eines
Tages zusammenbrechen müssen. Der Gesandte am päpstlichen Hof. Marchese
Croda, ein durchaus legitimistisch und katholisch gesinnter Mann, stellt schon
in einer Depesche vom 4. März 1837 den Sturz der weltlichen Herrschaft
des Papstes in Aussicht. "Es ist hier unter den weitblickenden Personen
eine übereinstimmende Anschauung, daß, wenn in diesem Land der gegen¬
wärtige Zustand der Dinge fortdauert, mit der Zeit eine wesentliche Krisis
eintreten muß, und die wahrscheinlichste Hypothese, in der man sich ergeht,


Oestreich gegenüber erinnerten, doch nicht so ganz vereinzelt. Gerade unter
den auswärtigen Diplomaten erhielt sich diese Tradition beständig oder kam
wenigstens bei einzelnen Anlässen wieder zu Tage. Sie schlummerte nur
gleichsam unter der Decke der östreichischen Freundschaft. Bemerkenswerth ist
besonders eine Depesche des Grafen Rossi, Gesandten in Se. Petersburg,
vom 24. Nov. 1839, in welcher es heißt: »Es ist unbestreitbar, daß früher
oder später durch die bloße Macht der Ereignisse die Suprematie Oestreichs
in Italien sich brechen muß. Nicht weniger ist es Allen einleuchtend, daß
wir durch unsere Lage die natürlichen Erben des Einflusses sind, den diese
Macht auf der Halbinsel verlieren wird. Ganz abgesehen von der Frage der
Nationalität, versetzen uns die militairischen Bedingungen, welche der König
unserem Land zu verschaffen gewußt hat, und welche den Maßstab geben für
das, was unser Königreich mit erweiterten Grenzen sein könnte, in die Lage,
um unserer militairischen Bedeutung willen als die einzige wahre italienische
Nationalmacht betrachtet zu werden. Es ist darum im wohlverstandenen In¬
teresse des europäischen Gleichgewichts, daß Piemont eine Macht ersten
Ranges werde, welcher die innere Politik Italiens mit Ausschluß jeder frem¬
den Einmischung anvertraut und ein solcher Territorialbesitz angewiesen werde,
welcher es in den Stand setzt, jedem Angriff von außen die Spitze zu bie¬
ten." Der Gesandte hatte, wie aus dem weiteren Inhalt seiner Denkschrift
hervorgeht, in erster Linie die Eventualität eines Bruchs zwischen Rußland
und Oestreich im Auge, welcher Piemont günstige Aussichten eröffnen werde.

Sind so noch immer die Spuren jener Staatskunst vorhanden, welche
die piemontesische Diplomatie bis zum Jahr 1820 fast ausnahmslos ver¬
treten hatte, so finden wir, daß die Träger dieser Diplomatie fortwährend
aufs aufmerksamste die inneren Zustände der einzelnen italienischen Staaten
verfolgen. Schärfer erkennen sie die Mängel an dem fremden, als dem eige¬
nen Staatswesen. Die Gesandtschaftsberichte aus Rom und Neapel nament¬
lich enthalten eine rücksichtslose Kritik der dortigen Zustände; sie bestätigen
vollkommen, was die liberalen Schriftsteller darüber veröffentlicht haben
und sie geben schon in den dreißiger Jahren unverholen der Ueber¬
zeugung Ausdruck, daß diese Throne, ohne Halt in der Bevölkerung,
untergraben durch ein System unheilbarer Corruption, nothwendig eines
Tages zusammenbrechen müssen. Der Gesandte am päpstlichen Hof. Marchese
Croda, ein durchaus legitimistisch und katholisch gesinnter Mann, stellt schon
in einer Depesche vom 4. März 1837 den Sturz der weltlichen Herrschaft
des Papstes in Aussicht. „Es ist hier unter den weitblickenden Personen
eine übereinstimmende Anschauung, daß, wenn in diesem Land der gegen¬
wärtige Zustand der Dinge fortdauert, mit der Zeit eine wesentliche Krisis
eintreten muß, und die wahrscheinlichste Hypothese, in der man sich ergeht,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/236>, abgerufen am 24.07.2024.