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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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kannt und wenigstens als Vermächtniß für eine künftige Periode festgestellt
wurden, war in jenem ersten Abschnitt ein rasches Sinken zu constatiren,
das einmal mit der allgemeinen Restaurationsströmung des Zeitalters zu¬
sammenhing, zugleich aber unmittelbar die Folge der inneren reactionairen
Politik des Staats war. Auch in dem neuen Abschnitt hält diese Periode
der Stagnation, des Gebundenseins an Oestreich, in dem man doch fort¬
während den schlimmsten Feind erkannte, noch über ein Jahrzehnt an; erst
zu Anfang der vierziger Jahre beginnen die Versuche der Emancipation, zuerst
schüchtern, dann kühner, bis endlich gehoben durch die allgemeine Bewegung,
welche sich an der Papstwahl von 1846 entzündete, der Staat die fremden
Fesseln vollends abschüttelt und das Wagniß unternimmt nach seinen höchsten
Zielen zu greifen. Piemont ist -- hierin nur mit einem einzigen zu ver¬
gleichen -- in der neueren Geschichte derjenige Staat, der sich der bewußtestem
consequentesten Entwickelung nach einem klaren Ziele rühmen darf, auf das
er immer wieder zurückkommt, wenn auch Jahrzehnte scheinbaren Rückschritts
dazwischen liegen, und das, je näher es der Erfüllung rückt, um so mehr
mit einem höheren Zwecke zusammenfällt, den er selbst nur langsam und
zögernd sich zu eigen macht. In diesem Sinne ist der piemontesijche Staat
ein Kunstwerk, das der Genius der italienischen Nation schuf, um in ihm
das Gefäß für sein wiedergeborenes nationales Leben zu finden.

Jetzt, da die Geschicke des Hauses Savoyen sich dermaßen erfüllt haben,
daß ihre klug befestigte und erweiterte Hausmacht aufgegangen ist in den
Nationalstaat der Italiener, gewährt es ein eigenthümliches Interesse, seiner
Politik auch in den Jahren nachzugehen, da ihm durch die Ungunst der Zeiten,
wie durch eigene Verblendung jede fernere Aussicht verschlossen schien. Im
Nachstehenden verfolgen wir die piemontesische Politik zunächst vom Jahre
1830 bis zum entscheidenden Wendepunkt des Jahres 1846.

Das Jahr 1830 macht in der Geschichte Italiens nicht blos deshalb
Epoche, weil die Julirevolution auch auf der Halbinsel erneuerte aufständi¬
sche Bewegungen und ein verstärktes Umsichgreifen des revolutionairen Secten-
geists zur Folge hatte, sondern weil sich über der Frage der Intervention
im Kirchenstaat ein diplomatischer Ringkampf zwischen Frankreich und Oest¬
reich entspann, der, wenn er noch nicht zum offenen Bruche führte, doch den
Gegensatz der Interessen schärfte und den späteren Bruch vorbereitete. In
diesem Ringkampf nun stand Piemont gänzlich auf Seite Oestreichs. Die
französische Diplomatie hatte.zwar schon in den letzten Jahren des dritten
Jahrzehnts versucht, ihren Einfluß auf der Halbinsel zu rehabilitiren, aber
ohne Erfolg. Der Haß gegen die Revolution, der Fanatismus für Kirche
und Gottesgnadenthum. die Erinnerungen an das, was Dynastie und Volk
unter Frankreich erduldet, hatten aus Piemont ein Land gemacht nach dem


kannt und wenigstens als Vermächtniß für eine künftige Periode festgestellt
wurden, war in jenem ersten Abschnitt ein rasches Sinken zu constatiren,
das einmal mit der allgemeinen Restaurationsströmung des Zeitalters zu¬
sammenhing, zugleich aber unmittelbar die Folge der inneren reactionairen
Politik des Staats war. Auch in dem neuen Abschnitt hält diese Periode
der Stagnation, des Gebundenseins an Oestreich, in dem man doch fort¬
während den schlimmsten Feind erkannte, noch über ein Jahrzehnt an; erst
zu Anfang der vierziger Jahre beginnen die Versuche der Emancipation, zuerst
schüchtern, dann kühner, bis endlich gehoben durch die allgemeine Bewegung,
welche sich an der Papstwahl von 1846 entzündete, der Staat die fremden
Fesseln vollends abschüttelt und das Wagniß unternimmt nach seinen höchsten
Zielen zu greifen. Piemont ist — hierin nur mit einem einzigen zu ver¬
gleichen — in der neueren Geschichte derjenige Staat, der sich der bewußtestem
consequentesten Entwickelung nach einem klaren Ziele rühmen darf, auf das
er immer wieder zurückkommt, wenn auch Jahrzehnte scheinbaren Rückschritts
dazwischen liegen, und das, je näher es der Erfüllung rückt, um so mehr
mit einem höheren Zwecke zusammenfällt, den er selbst nur langsam und
zögernd sich zu eigen macht. In diesem Sinne ist der piemontesijche Staat
ein Kunstwerk, das der Genius der italienischen Nation schuf, um in ihm
das Gefäß für sein wiedergeborenes nationales Leben zu finden.

Jetzt, da die Geschicke des Hauses Savoyen sich dermaßen erfüllt haben,
daß ihre klug befestigte und erweiterte Hausmacht aufgegangen ist in den
Nationalstaat der Italiener, gewährt es ein eigenthümliches Interesse, seiner
Politik auch in den Jahren nachzugehen, da ihm durch die Ungunst der Zeiten,
wie durch eigene Verblendung jede fernere Aussicht verschlossen schien. Im
Nachstehenden verfolgen wir die piemontesische Politik zunächst vom Jahre
1830 bis zum entscheidenden Wendepunkt des Jahres 1846.

Das Jahr 1830 macht in der Geschichte Italiens nicht blos deshalb
Epoche, weil die Julirevolution auch auf der Halbinsel erneuerte aufständi¬
sche Bewegungen und ein verstärktes Umsichgreifen des revolutionairen Secten-
geists zur Folge hatte, sondern weil sich über der Frage der Intervention
im Kirchenstaat ein diplomatischer Ringkampf zwischen Frankreich und Oest¬
reich entspann, der, wenn er noch nicht zum offenen Bruche führte, doch den
Gegensatz der Interessen schärfte und den späteren Bruch vorbereitete. In
diesem Ringkampf nun stand Piemont gänzlich auf Seite Oestreichs. Die
französische Diplomatie hatte.zwar schon in den letzten Jahren des dritten
Jahrzehnts versucht, ihren Einfluß auf der Halbinsel zu rehabilitiren, aber
ohne Erfolg. Der Haß gegen die Revolution, der Fanatismus für Kirche
und Gottesgnadenthum. die Erinnerungen an das, was Dynastie und Volk
unter Frankreich erduldet, hatten aus Piemont ein Land gemacht nach dem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/228>, abgerufen am 24.07.2024.