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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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Es fehlt auch in Rußland keineswegs an Stimmen, welche Freiheit des
religiösen Bekenntnisses fordern, aber sie sind vereinzelt und durch die Rück¬
sicht auf das herrschende Vorurtheil gebunden. Nicht nur die Regierung hat
von ihrem Bedauern über den in Livland herrschenden Zustand wiederholt
Zeugniß abgelegt, verschiedene Publicisten der nationalen Partei (unter
ihnen namentlich der Führer der Slawophilen, Iwan Aksakow) haben
trotz ihrem eigenen fanatischen Eifer für die griechische Kirche und deren
Propaganda nicht umhin gekonnt, den gegenwärtigen Zustand der Ge¬
bundenheit der griechischen Confessionsgenossen als unerträglich und un¬
würdig zu bezeichnen und im Namen der Würde ihrer Kirche freie Bahn
zu verlangen. In ähnlichem Sinne hat sich schon vor 10 Jahren ein russi¬
scher Jurist Philipow in seiner Kritik des russischen Civilrechts öffentlich aus¬
gesprochen.

Diesen Stimmen und zugleich der Stimme des Zeitgeists Gehör zu
schaffen, ist eine Pflicht der gesammten Culturwelt, ganz besonders aber der
deutsch-protestantischen. Wie wir die Dinge ansehen, ist die kirchlich-religiöse
Frage von der politischen Frage nach der Zukunft des deutschen Elements
an der Ostsee zunächst zu trennen, wenn wirkliche Erfolge erzielt werden
sollen. Wo nicht politische Rücksichten ins Spiel kommen, ist man in Ru߬
land für die öffentliche Meinung Europas sehr viel zugänglicher, ja em¬
pfindlicher, als gewöhnlich geglaubt wird. Kundgebungen, welche die Ge¬
wissensfreiheit im Namen der Cultur und des Zeitgeistes fordern und den
gegenwärtigen Zustand als mit der Bildung unserer Zeit unverträglich ver-
urtheilen, würde eine gewisse Rücksicht sicher nicht versagt bleiben, zumal es
an ihnen bis jetzt vollständig gefehlt hat 'und die in Rede stehenden That¬
sachen einem großen Theil Rußlands ebensowenig genau bekannt sein dürf¬
ten, als dem außerrussischen Europa. -- Möchte es an Kundgebungen
dieser Art nicht ganz fehlen. Dem Harleß'schen Buch aber bleibt das große
und unbestreitbare Verdienst in dieser Beziehung die Initiative ergriffen
zu haben. -- Es geschieht in unserer Zeit nicht oft, daß ein hochgestell¬
ter Geistlicher im Namen der gesammten Nation reden darf. Für das kräftige
Wort aber, mit welchem Harleß am Schluß seines Werkes jedes Staats-
kirchenthum verurtheilt, das sich zum gefügigen Werkzeug staatlicher Zwecke
macht und dem Wesen des Christenthums zuwiderlaufende Ziele verfolgt --
für dieses Wort glauben wir die Zustimmung Aller in Anspruch nehmen
zu dürfen, welche in dem Vaterlande der geistigen Freiheit ein Bürger¬
recht besitzen.




Es fehlt auch in Rußland keineswegs an Stimmen, welche Freiheit des
religiösen Bekenntnisses fordern, aber sie sind vereinzelt und durch die Rück¬
sicht auf das herrschende Vorurtheil gebunden. Nicht nur die Regierung hat
von ihrem Bedauern über den in Livland herrschenden Zustand wiederholt
Zeugniß abgelegt, verschiedene Publicisten der nationalen Partei (unter
ihnen namentlich der Führer der Slawophilen, Iwan Aksakow) haben
trotz ihrem eigenen fanatischen Eifer für die griechische Kirche und deren
Propaganda nicht umhin gekonnt, den gegenwärtigen Zustand der Ge¬
bundenheit der griechischen Confessionsgenossen als unerträglich und un¬
würdig zu bezeichnen und im Namen der Würde ihrer Kirche freie Bahn
zu verlangen. In ähnlichem Sinne hat sich schon vor 10 Jahren ein russi¬
scher Jurist Philipow in seiner Kritik des russischen Civilrechts öffentlich aus¬
gesprochen.

Diesen Stimmen und zugleich der Stimme des Zeitgeists Gehör zu
schaffen, ist eine Pflicht der gesammten Culturwelt, ganz besonders aber der
deutsch-protestantischen. Wie wir die Dinge ansehen, ist die kirchlich-religiöse
Frage von der politischen Frage nach der Zukunft des deutschen Elements
an der Ostsee zunächst zu trennen, wenn wirkliche Erfolge erzielt werden
sollen. Wo nicht politische Rücksichten ins Spiel kommen, ist man in Ru߬
land für die öffentliche Meinung Europas sehr viel zugänglicher, ja em¬
pfindlicher, als gewöhnlich geglaubt wird. Kundgebungen, welche die Ge¬
wissensfreiheit im Namen der Cultur und des Zeitgeistes fordern und den
gegenwärtigen Zustand als mit der Bildung unserer Zeit unverträglich ver-
urtheilen, würde eine gewisse Rücksicht sicher nicht versagt bleiben, zumal es
an ihnen bis jetzt vollständig gefehlt hat 'und die in Rede stehenden That¬
sachen einem großen Theil Rußlands ebensowenig genau bekannt sein dürf¬
ten, als dem außerrussischen Europa. — Möchte es an Kundgebungen
dieser Art nicht ganz fehlen. Dem Harleß'schen Buch aber bleibt das große
und unbestreitbare Verdienst in dieser Beziehung die Initiative ergriffen
zu haben. — Es geschieht in unserer Zeit nicht oft, daß ein hochgestell¬
ter Geistlicher im Namen der gesammten Nation reden darf. Für das kräftige
Wort aber, mit welchem Harleß am Schluß seines Werkes jedes Staats-
kirchenthum verurtheilt, das sich zum gefügigen Werkzeug staatlicher Zwecke
macht und dem Wesen des Christenthums zuwiderlaufende Ziele verfolgt —
für dieses Wort glauben wir die Zustimmung Aller in Anspruch nehmen
zu dürfen, welche in dem Vaterlande der geistigen Freiheit ein Bürger¬
recht besitzen.




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[0021] Es fehlt auch in Rußland keineswegs an Stimmen, welche Freiheit des religiösen Bekenntnisses fordern, aber sie sind vereinzelt und durch die Rück¬ sicht auf das herrschende Vorurtheil gebunden. Nicht nur die Regierung hat von ihrem Bedauern über den in Livland herrschenden Zustand wiederholt Zeugniß abgelegt, verschiedene Publicisten der nationalen Partei (unter ihnen namentlich der Führer der Slawophilen, Iwan Aksakow) haben trotz ihrem eigenen fanatischen Eifer für die griechische Kirche und deren Propaganda nicht umhin gekonnt, den gegenwärtigen Zustand der Ge¬ bundenheit der griechischen Confessionsgenossen als unerträglich und un¬ würdig zu bezeichnen und im Namen der Würde ihrer Kirche freie Bahn zu verlangen. In ähnlichem Sinne hat sich schon vor 10 Jahren ein russi¬ scher Jurist Philipow in seiner Kritik des russischen Civilrechts öffentlich aus¬ gesprochen. Diesen Stimmen und zugleich der Stimme des Zeitgeists Gehör zu schaffen, ist eine Pflicht der gesammten Culturwelt, ganz besonders aber der deutsch-protestantischen. Wie wir die Dinge ansehen, ist die kirchlich-religiöse Frage von der politischen Frage nach der Zukunft des deutschen Elements an der Ostsee zunächst zu trennen, wenn wirkliche Erfolge erzielt werden sollen. Wo nicht politische Rücksichten ins Spiel kommen, ist man in Ru߬ land für die öffentliche Meinung Europas sehr viel zugänglicher, ja em¬ pfindlicher, als gewöhnlich geglaubt wird. Kundgebungen, welche die Ge¬ wissensfreiheit im Namen der Cultur und des Zeitgeistes fordern und den gegenwärtigen Zustand als mit der Bildung unserer Zeit unverträglich ver- urtheilen, würde eine gewisse Rücksicht sicher nicht versagt bleiben, zumal es an ihnen bis jetzt vollständig gefehlt hat 'und die in Rede stehenden That¬ sachen einem großen Theil Rußlands ebensowenig genau bekannt sein dürf¬ ten, als dem außerrussischen Europa. — Möchte es an Kundgebungen dieser Art nicht ganz fehlen. Dem Harleß'schen Buch aber bleibt das große und unbestreitbare Verdienst in dieser Beziehung die Initiative ergriffen zu haben. — Es geschieht in unserer Zeit nicht oft, daß ein hochgestell¬ ter Geistlicher im Namen der gesammten Nation reden darf. Für das kräftige Wort aber, mit welchem Harleß am Schluß seines Werkes jedes Staats- kirchenthum verurtheilt, das sich zum gefügigen Werkzeug staatlicher Zwecke macht und dem Wesen des Christenthums zuwiderlaufende Ziele verfolgt — für dieses Wort glauben wir die Zustimmung Aller in Anspruch nehmen zu dürfen, welche in dem Vaterlande der geistigen Freiheit ein Bürger¬ recht besitzen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/21>, abgerufen am 24.07.2024.