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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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gewissen Abschluß erzielt zu haben. Alles, was in Frankreich seit Wochen
geschehen, war mit Berechnung auf diese Wahlen vorgenommen worden; die
vielbesprochene Rede des Herrn v. Lavalerte ist sicher noch mehr an die fran-
zösischen Wähleradressen als an deutsche und englische Diplomatenadressen
gerichtet gewesen; das in elfter Stunde abgegebene Versprechen, nicht nur
die. alten Soldaten des Kaiserreichs, sondern auch verdiente Lehrer und Be¬
amte mit Pensionen zu bedenken, die Versöhnung zwischen Rouher und dem
Seinepräfecten -- Alles hat auf die Wahlen Beziehung. Ist da anzuneh.
men, daß man den Oppositionscandidaten die Gelegenheit bieten wolle, von
einem vor der Thür stehenden neuen Fiasco der kaiserlichen Diplomatie zu
reden und peinliche Erinnerungen an Nikolsburg, Mexico und Luxemburg
heraufzubeschwören? Die eigenthümliche Gestalt, welche die Wahlagitation im
zweiten Kaiserreich angenommen hat, muß die Regierung noch zu besonderer
Vorsicht in dieser Beziehung zwingen. Während in den übrigen konstitutio¬
nellen Staaten Europas die Wähler die Initiative ergreifen, aus dem Schooß
der Wahlkreise hervorgegangene Comite's Candidaten und Programme auf¬
stellen, sind es in Frankreich die Candidaten, welche an der Spitze der Agi¬
tationen stehen und, Weinreisenden gleich, die Waare ihrer Programme an¬
preisen. Gerade wegen der zahlreichen Blößen, welche die liberale Opposition
sich gegeben hat, kann nicht fehlen, daß dieselbe ihre Möglichstes thut, um
aus den Fehlern der Regierung Capital zu schlagen; machen diese Fehler
doch den größten Theil des Credits aus. von dem Politiker wie Thiers,
Favre, Simon u. A. leben, und bleibt diesen Leuten doch wenig mehr übrig,
als den Wählern zu beweisen, daß die Regierungscandidaten noch weniger
taugen, als sie selbst. An sehr vielen Punkten wird der Regierung nichts
übrig bleiben, als ihr Heil mit Männern der dynastischen Opposition vom
Schlage Ollivier's zu versuchen, so wenig diese auch nach dem Herzen der
gegenwärtigen Machthaber sein mögen. Sollen diese Männer der tiörs-
Partei aber etwas ausrichten, so müssen sie beweisen können, daß die Re¬
gierung ihre früheren diplomatischen Fehler gut gemacht habe, und das wird
schwer halten, so lange die belgische Eisenbahnangelegenheit nicht geordnet ist.

Wenn man in Brüssel entschlossen ist, den eingenommenen Standpunkt
nicht mehr zu verlassen, so thut man das in der Rechnung auf die zweifel¬
lose Unterstützung der Großmächte, namentlich Englands. -- Das britische
Cabinet ist im Augenblick mit anderen Dingen so überbeschäftigt, daß es zu
der in Rede stehenden Streitfrage noch nicht feste Position genommen hat.
Die Entscheidung über die irische Staatskirche harrt noch einer dritten Lesung
im Unterhause, und der Beurtheilung durch die Lords; obgleich Gladstone
bis jetzt aus allen Discussionen über dieselbe als Sieger hervorgegangen ist,
bleibt ihm immer noch ein tüchtiges Stück Arbeit übrig, denn der Wider-


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gewissen Abschluß erzielt zu haben. Alles, was in Frankreich seit Wochen
geschehen, war mit Berechnung auf diese Wahlen vorgenommen worden; die
vielbesprochene Rede des Herrn v. Lavalerte ist sicher noch mehr an die fran-
zösischen Wähleradressen als an deutsche und englische Diplomatenadressen
gerichtet gewesen; das in elfter Stunde abgegebene Versprechen, nicht nur
die. alten Soldaten des Kaiserreichs, sondern auch verdiente Lehrer und Be¬
amte mit Pensionen zu bedenken, die Versöhnung zwischen Rouher und dem
Seinepräfecten — Alles hat auf die Wahlen Beziehung. Ist da anzuneh.
men, daß man den Oppositionscandidaten die Gelegenheit bieten wolle, von
einem vor der Thür stehenden neuen Fiasco der kaiserlichen Diplomatie zu
reden und peinliche Erinnerungen an Nikolsburg, Mexico und Luxemburg
heraufzubeschwören? Die eigenthümliche Gestalt, welche die Wahlagitation im
zweiten Kaiserreich angenommen hat, muß die Regierung noch zu besonderer
Vorsicht in dieser Beziehung zwingen. Während in den übrigen konstitutio¬
nellen Staaten Europas die Wähler die Initiative ergreifen, aus dem Schooß
der Wahlkreise hervorgegangene Comite's Candidaten und Programme auf¬
stellen, sind es in Frankreich die Candidaten, welche an der Spitze der Agi¬
tationen stehen und, Weinreisenden gleich, die Waare ihrer Programme an¬
preisen. Gerade wegen der zahlreichen Blößen, welche die liberale Opposition
sich gegeben hat, kann nicht fehlen, daß dieselbe ihre Möglichstes thut, um
aus den Fehlern der Regierung Capital zu schlagen; machen diese Fehler
doch den größten Theil des Credits aus. von dem Politiker wie Thiers,
Favre, Simon u. A. leben, und bleibt diesen Leuten doch wenig mehr übrig,
als den Wählern zu beweisen, daß die Regierungscandidaten noch weniger
taugen, als sie selbst. An sehr vielen Punkten wird der Regierung nichts
übrig bleiben, als ihr Heil mit Männern der dynastischen Opposition vom
Schlage Ollivier's zu versuchen, so wenig diese auch nach dem Herzen der
gegenwärtigen Machthaber sein mögen. Sollen diese Männer der tiörs-
Partei aber etwas ausrichten, so müssen sie beweisen können, daß die Re¬
gierung ihre früheren diplomatischen Fehler gut gemacht habe, und das wird
schwer halten, so lange die belgische Eisenbahnangelegenheit nicht geordnet ist.

Wenn man in Brüssel entschlossen ist, den eingenommenen Standpunkt
nicht mehr zu verlassen, so thut man das in der Rechnung auf die zweifel¬
lose Unterstützung der Großmächte, namentlich Englands. — Das britische
Cabinet ist im Augenblick mit anderen Dingen so überbeschäftigt, daß es zu
der in Rede stehenden Streitfrage noch nicht feste Position genommen hat.
Die Entscheidung über die irische Staatskirche harrt noch einer dritten Lesung
im Unterhause, und der Beurtheilung durch die Lords; obgleich Gladstone
bis jetzt aus allen Discussionen über dieselbe als Sieger hervorgegangen ist,
bleibt ihm immer noch ein tüchtiges Stück Arbeit übrig, denn der Wider-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/195>, abgerufen am 24.07.2024.