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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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und der Minister des Innern, Herr Heemskerk, erklärte feierlich: "die Regie¬
rung werde nicht dulden, daß die Schmach der Unchristlichkeit auf die offene>
liebe Schule geworfen würde!"

Das Verhalten des Ministeriums bei der Ernennung des Herrn Myer
rief einen Sturm in der Kammer hervor, so daß dieselbe im Herbste des
Jahres 1866 aufgelöst wurde, und die heftigste Aufregung im Lande ent¬
stand. Es war natürlich, daß das Ministerium durch die neuen Wahlen
das Uebergewicht in der zweiten Kammer erlangen wollte, um am Ruder
bleiben zu können; es mußte sich darum mit allen nichtliberalen Parteien
verbinden. In gemeinsamer Action mit den letzteren konnte allein der libera¬
len Partei mit Erfolg Widerstand geboten werden. Ueberall wurde unter
verschiedenen Losungen aaitirt: hier appellirte man an die Religiosität des
Volkes, indem man den Liberalen Materialismus vorwarf; dort rief man,
die Rechte der Krone seien in Gefahr; wieder anderswo hatte man andere
Anklagen gegen die Liberalen. Auch die Katholiken, die ihre Gleichberechti¬
gung im Staate der letzten Partei zu verdanken und sich zu derselben ge¬
halten hatten, waren durch den Syllabus in eine andere Strömung gerathen
und traten mit ihrer Antipathie gegen die neutrale öffentliche Schule hervor,
deren Confessionslosigkeit ihnen noch im Jahre 1857 nicht deutlich genug im
Gesetz ausgesprochen werden konnte.

So gewann das Ministerium in der neuen Kammer einige Stimmen,
obgleich es noch nicht über eine evidente Mehrzahl verfügen konnte, da beide
Parteien, Liberale und Antiliberale, sich so ziemlich das Gleichgewicht hiel¬
ten. Bei der Berathung des Budgets kam es im Herbste 1867, gelegentlich
der Besprechung des Verhaltens des Ministeriums in der luxemburgischen
Frage, zur Verwerfung des Vertrages des Herrn van Zuylen, und das Mi¬
nisterium wagte eine zweite Auflösung der Kammer.

Diese in den niederländischen Annalen unerhörte That half dem Ca-
binete nichts, obgleich es mit Agitationen jeder Art fortfuhr und sich trotz
seiner früheren Erklärungen zur Revision des Schulgesetzes verpflichtete, kurz
Unterstützung suchte, wo es irgend konnte. Wohl hatten die Liberalen in
der binnen Jahresfrist zum zweiten Male erneuerten Kammer keinen Zuwachs
an Mitgliedern erhalten; wohl reichte Herr Heemskerk einen neuen Schul¬
gesetzentwurf ein, aber selbst die Conservativen fanden eine zweimalige
Kammerauflösung zu dem alleinigen Zweck, ein Ministerium zu retten,
gefährlich. Das Cabinet mußte endlich abtreten, und im Frühling des
vorigen Jahres trat das Ministerium van Bosse-Font ein. Die erste
That des Herrn Font war, daß er den Gesetzentwurf des Herrn Heemskerk
zurückzog und bald darauf in der Kammer erklärte, er habe nicht die
Absicht, das Schulgesetz zu ändern; er sei überzeugt, daß mit dem-


und der Minister des Innern, Herr Heemskerk, erklärte feierlich: „die Regie¬
rung werde nicht dulden, daß die Schmach der Unchristlichkeit auf die offene>
liebe Schule geworfen würde!"

Das Verhalten des Ministeriums bei der Ernennung des Herrn Myer
rief einen Sturm in der Kammer hervor, so daß dieselbe im Herbste des
Jahres 1866 aufgelöst wurde, und die heftigste Aufregung im Lande ent¬
stand. Es war natürlich, daß das Ministerium durch die neuen Wahlen
das Uebergewicht in der zweiten Kammer erlangen wollte, um am Ruder
bleiben zu können; es mußte sich darum mit allen nichtliberalen Parteien
verbinden. In gemeinsamer Action mit den letzteren konnte allein der libera¬
len Partei mit Erfolg Widerstand geboten werden. Ueberall wurde unter
verschiedenen Losungen aaitirt: hier appellirte man an die Religiosität des
Volkes, indem man den Liberalen Materialismus vorwarf; dort rief man,
die Rechte der Krone seien in Gefahr; wieder anderswo hatte man andere
Anklagen gegen die Liberalen. Auch die Katholiken, die ihre Gleichberechti¬
gung im Staate der letzten Partei zu verdanken und sich zu derselben ge¬
halten hatten, waren durch den Syllabus in eine andere Strömung gerathen
und traten mit ihrer Antipathie gegen die neutrale öffentliche Schule hervor,
deren Confessionslosigkeit ihnen noch im Jahre 1857 nicht deutlich genug im
Gesetz ausgesprochen werden konnte.

So gewann das Ministerium in der neuen Kammer einige Stimmen,
obgleich es noch nicht über eine evidente Mehrzahl verfügen konnte, da beide
Parteien, Liberale und Antiliberale, sich so ziemlich das Gleichgewicht hiel¬
ten. Bei der Berathung des Budgets kam es im Herbste 1867, gelegentlich
der Besprechung des Verhaltens des Ministeriums in der luxemburgischen
Frage, zur Verwerfung des Vertrages des Herrn van Zuylen, und das Mi¬
nisterium wagte eine zweite Auflösung der Kammer.

Diese in den niederländischen Annalen unerhörte That half dem Ca-
binete nichts, obgleich es mit Agitationen jeder Art fortfuhr und sich trotz
seiner früheren Erklärungen zur Revision des Schulgesetzes verpflichtete, kurz
Unterstützung suchte, wo es irgend konnte. Wohl hatten die Liberalen in
der binnen Jahresfrist zum zweiten Male erneuerten Kammer keinen Zuwachs
an Mitgliedern erhalten; wohl reichte Herr Heemskerk einen neuen Schul¬
gesetzentwurf ein, aber selbst die Conservativen fanden eine zweimalige
Kammerauflösung zu dem alleinigen Zweck, ein Ministerium zu retten,
gefährlich. Das Cabinet mußte endlich abtreten, und im Frühling des
vorigen Jahres trat das Ministerium van Bosse-Font ein. Die erste
That des Herrn Font war, daß er den Gesetzentwurf des Herrn Heemskerk
zurückzog und bald darauf in der Kammer erklärte, er habe nicht die
Absicht, das Schulgesetz zu ändern; er sei überzeugt, daß mit dem-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/181>, abgerufen am 24.07.2024.