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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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Erregung desselben auf den höchsten Grad; daß ein vornehmer Herr aus
Petersburg, ein Freund des Kaisers, ins Land gekommen war, um die Ge¬
suche in ihren Gewissen beängstigter armer Letten und Ehlen zu prüfen, daß er
ihr Verlangen, zur Kirche der Väter zurückzukehren, nicht mit dem Hinweis
auf die unerbittlichen Paragraphen des Strafgesetzbuchs beantwortet, sondern
in freundlicher Weise aä rskersnäum genommen hatte, erfüllte alle Welt und
namentlich diejenigen, die seit Jahren vergeblich an den Banden des rus¬
sischen Kirchengesetzes gerüttelt hatten, mit den frohesten Hoffnungen. In einen
wahren Taumel verwandelten diese Hoffnungen sich aber, als bekannt wurde,
daß der Graf allen Gegenbemühungen der griechisch-orthodoxen Geistlichkeit
zum Trotz, die Ueberzeugung gewonnen und freimüthig dem Kaiser bekannt
hatte, daß es sich nicht um Intriguen der lutherischen Pastoren, sondern
um einen sittlich-religiösen Nothstand handele, dem zu Gunsten der Ge¬
wissensfreiheit ein Ende gemacht werden müsse, weil der bisher geübte Ge¬
wissenszwang "mit der Ehre Rußlands und der Ehre der griechisch-orthodoxen
Kirche" unverträglich sei.

So groß und nachhaltig auch der Eindruck war, den das freimüthige
Wort des Grafen an entscheidender Stelle machte, zu einer Aufhebung
des Gesetzes, welches den Austritt aus der orthodoxen Kirche bei Strafe
verbot, konnte man sich dennoch nicht entschließen. Nicht nur, daß der Ge¬
danke an Gewissensfreiheit und Gleichberechtigung der Confesstonen in Ruß-
land überhaupt neu und selbst zur Zeit der Allmacht liberaler Ideen blos
schüchtern und vereinzelt ausgesprochen worden war -- der Zeitpunkt, in
welchem diese Angelegenheit zum Austrag kam (Frühjahr 1865), erschien
einer Entscheidung im Sinne des Liberalismus besonders ungünstig. Das
durch den kaum beendigten polnisch-lithauischen Aufstand erregte National¬
gefühl des russischen Volks war empfindlicher und eifersüchtiger, denn je
früher, und selbst diejenigen Stimmen der Presse, welche sonst die Toleranz¬
ideen bevorwortet hatten, neigten jetzt zu der Meinung, daß eine so mächtige
Waffe der Rusfifictrung und der Bekämpfung polnischer und deutscher Ele¬
mente, wie es die Herrschaft der griechischen Kirche ist, zur Zeit nicht aus
den Händen gegeben werden dürfe; überdies stand die Feindschaft der ein¬
flußreichen moskauer Nationalpartei gegen die Provinzen an der Ostsee gerade
damals in vollster Blüthe. So entschloß die Regierung sich zu einer blos
theilweisen Concession: die Bestimmungen über die Unauflöslichkeit der Ver¬
bindung mit der griechischen Kirche blieben in Kraft, dafür aber wurde die
Confession der in gemischten Ehen erzeugten Kinder für alle drei Ostseeprovinzen
der Wahl der Eltern anheimgegeben -- ein Schritt von immerhin großer
Tragweite, der einen der am schmerzlichsten empfundenen Uebelstände beseitigte.
Schon die Art und Weise, in der diese Maßregel zur Ausführung kam, ließ


Erregung desselben auf den höchsten Grad; daß ein vornehmer Herr aus
Petersburg, ein Freund des Kaisers, ins Land gekommen war, um die Ge¬
suche in ihren Gewissen beängstigter armer Letten und Ehlen zu prüfen, daß er
ihr Verlangen, zur Kirche der Väter zurückzukehren, nicht mit dem Hinweis
auf die unerbittlichen Paragraphen des Strafgesetzbuchs beantwortet, sondern
in freundlicher Weise aä rskersnäum genommen hatte, erfüllte alle Welt und
namentlich diejenigen, die seit Jahren vergeblich an den Banden des rus¬
sischen Kirchengesetzes gerüttelt hatten, mit den frohesten Hoffnungen. In einen
wahren Taumel verwandelten diese Hoffnungen sich aber, als bekannt wurde,
daß der Graf allen Gegenbemühungen der griechisch-orthodoxen Geistlichkeit
zum Trotz, die Ueberzeugung gewonnen und freimüthig dem Kaiser bekannt
hatte, daß es sich nicht um Intriguen der lutherischen Pastoren, sondern
um einen sittlich-religiösen Nothstand handele, dem zu Gunsten der Ge¬
wissensfreiheit ein Ende gemacht werden müsse, weil der bisher geübte Ge¬
wissenszwang „mit der Ehre Rußlands und der Ehre der griechisch-orthodoxen
Kirche" unverträglich sei.

So groß und nachhaltig auch der Eindruck war, den das freimüthige
Wort des Grafen an entscheidender Stelle machte, zu einer Aufhebung
des Gesetzes, welches den Austritt aus der orthodoxen Kirche bei Strafe
verbot, konnte man sich dennoch nicht entschließen. Nicht nur, daß der Ge¬
danke an Gewissensfreiheit und Gleichberechtigung der Confesstonen in Ruß-
land überhaupt neu und selbst zur Zeit der Allmacht liberaler Ideen blos
schüchtern und vereinzelt ausgesprochen worden war — der Zeitpunkt, in
welchem diese Angelegenheit zum Austrag kam (Frühjahr 1865), erschien
einer Entscheidung im Sinne des Liberalismus besonders ungünstig. Das
durch den kaum beendigten polnisch-lithauischen Aufstand erregte National¬
gefühl des russischen Volks war empfindlicher und eifersüchtiger, denn je
früher, und selbst diejenigen Stimmen der Presse, welche sonst die Toleranz¬
ideen bevorwortet hatten, neigten jetzt zu der Meinung, daß eine so mächtige
Waffe der Rusfifictrung und der Bekämpfung polnischer und deutscher Ele¬
mente, wie es die Herrschaft der griechischen Kirche ist, zur Zeit nicht aus
den Händen gegeben werden dürfe; überdies stand die Feindschaft der ein¬
flußreichen moskauer Nationalpartei gegen die Provinzen an der Ostsee gerade
damals in vollster Blüthe. So entschloß die Regierung sich zu einer blos
theilweisen Concession: die Bestimmungen über die Unauflöslichkeit der Ver¬
bindung mit der griechischen Kirche blieben in Kraft, dafür aber wurde die
Confession der in gemischten Ehen erzeugten Kinder für alle drei Ostseeprovinzen
der Wahl der Eltern anheimgegeben — ein Schritt von immerhin großer
Tragweite, der einen der am schmerzlichsten empfundenen Uebelstände beseitigte.
Schon die Art und Weise, in der diese Maßregel zur Ausführung kam, ließ


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/18>, abgerufen am 24.07.2024.