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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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der und Brüderchen. -- Als wir nach dem Dorfe Nicolosi hinunterkcimen,
sahen wir auf der Straße einen fünfundzwanzigjährigen Thiermenschen, der
von allen Prädicaten des Menschen nur das an sich bastelte, ein Sohlen¬
gänger zu sein; er kann nämlich nur auf allen Vieren gehen, dabei schiebt
er die vorderen Extremitäten genau wie ein Pavian vor. Die Laute, die
er ausstößt, stimmen zum Charakter der Bewegung. Dies Geschöpf, das
noch einen ebenso gearteten Bruder von 23 Jahren hat. fühlt sich, wie aus
seinem vergnügten Grunzen wahrzunehmen ist. ganz glücklich; nur uns. die
wir einmal ein höheres Maaß für dasselbe in uns haben, ist der Anblick
dieses Kolumban schrecklich.

In Gesprächen mit den Einwohnern von Nicolosi begegneten uns die¬
selben Klagen, die man auch in Italien hört: "Die Beamten fressen das
Reich". Ein Fremder kann die Wahrheit solcher Aeußerungen nicht wohl
untersuchen, aber es ist schon schlimm genug, daß sie allgemein ausgesprochen
und allgemein geglaubt werden. Nach oberflächlicher Wahrnehmung scheint
mir jedoch, als leide der Verwaltungsmechanismus des Königreichs an dem
Mangel einer mittleren gebildeten und durchaus ehrenhaften Beamtenschicht;
eine Unmasse von Subalternen, die sich keine Autorität zu geben wissen, und
einzelne Chefs darüber in weiter, weiter Ferne, mit denen das Volk nicht in
Berührung kommt, und denen es ohne Weiteres alle Leiden des Tages
in die Schuhe schiebt, -- so sieht sich die Sache an. Statt der Verwaltung
hat man den Mechanismus der Constitution ausgebildet. ein Anachronismus,
der sich noch als sehr verhängnißvoll erweisen wird. Es dient nicht Allen
Alles, und nicht Alles zu jeder Zeit. Und wie will dieser Staat leben
können? Ein armselig aussehendes Dorf wie Nicolosi. mit 3000 Einwoh¬
nern, hat 6 Kirchen und 10 Priester. Verzehren die 9 Ueberflüssigen nicht
eben das, was in den allgemeinen Nutzen des Orts aufgewandt werden
sollte? Ehe der König nicht selbst die Reformation der Kirche, ich sage nicht
ihres Dogma's, aber ihrer gesellschaftlichen Einrichtung in die Hand nimmt,
kann sein Staat nicht wahrhaft aufblühen.




Wir begannen den zweiten Tag unseres Aufenthalts hier mit einer
Fahrt über den Hafen, in den Anapus hinein und zur Quelle Cyana hinauf.
An deren Ufern wächst -- es ist die einzige Stelle in Europa -- in großen
Massen die Papyrusstaude, eine mächtige, schlanke, dreikantige Binse mit
wallenden Haaren; ein leichtbewegliches, reizend nymphenhaftes Geschöpf.
Unser Führer, der Maler Michelangelo Politi, verfertigt aus dem Stengel
nach der Weise der Alten den Papyrus, der freilich nur noch zu kleinen


der und Brüderchen. — Als wir nach dem Dorfe Nicolosi hinunterkcimen,
sahen wir auf der Straße einen fünfundzwanzigjährigen Thiermenschen, der
von allen Prädicaten des Menschen nur das an sich bastelte, ein Sohlen¬
gänger zu sein; er kann nämlich nur auf allen Vieren gehen, dabei schiebt
er die vorderen Extremitäten genau wie ein Pavian vor. Die Laute, die
er ausstößt, stimmen zum Charakter der Bewegung. Dies Geschöpf, das
noch einen ebenso gearteten Bruder von 23 Jahren hat. fühlt sich, wie aus
seinem vergnügten Grunzen wahrzunehmen ist. ganz glücklich; nur uns. die
wir einmal ein höheres Maaß für dasselbe in uns haben, ist der Anblick
dieses Kolumban schrecklich.

In Gesprächen mit den Einwohnern von Nicolosi begegneten uns die¬
selben Klagen, die man auch in Italien hört: „Die Beamten fressen das
Reich". Ein Fremder kann die Wahrheit solcher Aeußerungen nicht wohl
untersuchen, aber es ist schon schlimm genug, daß sie allgemein ausgesprochen
und allgemein geglaubt werden. Nach oberflächlicher Wahrnehmung scheint
mir jedoch, als leide der Verwaltungsmechanismus des Königreichs an dem
Mangel einer mittleren gebildeten und durchaus ehrenhaften Beamtenschicht;
eine Unmasse von Subalternen, die sich keine Autorität zu geben wissen, und
einzelne Chefs darüber in weiter, weiter Ferne, mit denen das Volk nicht in
Berührung kommt, und denen es ohne Weiteres alle Leiden des Tages
in die Schuhe schiebt, — so sieht sich die Sache an. Statt der Verwaltung
hat man den Mechanismus der Constitution ausgebildet. ein Anachronismus,
der sich noch als sehr verhängnißvoll erweisen wird. Es dient nicht Allen
Alles, und nicht Alles zu jeder Zeit. Und wie will dieser Staat leben
können? Ein armselig aussehendes Dorf wie Nicolosi. mit 3000 Einwoh¬
nern, hat 6 Kirchen und 10 Priester. Verzehren die 9 Ueberflüssigen nicht
eben das, was in den allgemeinen Nutzen des Orts aufgewandt werden
sollte? Ehe der König nicht selbst die Reformation der Kirche, ich sage nicht
ihres Dogma's, aber ihrer gesellschaftlichen Einrichtung in die Hand nimmt,
kann sein Staat nicht wahrhaft aufblühen.




Wir begannen den zweiten Tag unseres Aufenthalts hier mit einer
Fahrt über den Hafen, in den Anapus hinein und zur Quelle Cyana hinauf.
An deren Ufern wächst — es ist die einzige Stelle in Europa — in großen
Massen die Papyrusstaude, eine mächtige, schlanke, dreikantige Binse mit
wallenden Haaren; ein leichtbewegliches, reizend nymphenhaftes Geschöpf.
Unser Führer, der Maler Michelangelo Politi, verfertigt aus dem Stengel
nach der Weise der Alten den Papyrus, der freilich nur noch zu kleinen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/162>, abgerufen am 24.07.2024.