Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

bedrohten. Je strenger der Clerus mit diesen drohte, desto mehr steigerte
sich die Abneigung der Massen, deren passiver Widerstand bald nicht mehr
zu bewältigen war. Besonders böses Blut machte es. daß die griechischen
Priester immer wieder Personen als Convertiten reclamirten. die niemals
übergetreten zu sein behaupteten und daß diese Renitenten, welche unter
keinen Umständen zum griechischen Sacrament des Altars gingen (auch dieses
bedingt Zugehörigkeit zur griech. Kirche), dafür mit Ruthenhieben be¬
straft wurden. Das Schlimmste war die Einwirkung dieses kirchlichen Par-
teikawpfs auf die öffentliche Sittlichkeit. Da die in gemischten Ehen erzeugten
Kinder nach Vorschrift des Gesetzes der griechischen Kirche verfielen, uneheliche
Kinder aus gemischten Verbindungen (gemäß einer im I/ 1862 erlassenen
Bestimmung der livländischen Bauern>Verordnung) aber je nachdem der Vater
oder die Mutter sich ihrer annahmen, die Wahl der Confession frei hatten, so
nahmen die Concubinate gerade unter den ernst gesinnten und gewissenhaften
Leuten massenhaft zu.

So lange das strenge Regiment des Kaisers Nikolaus jede freiere Regung
niederhielt, beschränkte sich diese Bewegung unter dem keltisch-chemischen Land¬
volk auf relativ bescheidene Proportionen. Nach der Thronbesteigung Alexan¬
ders II. wurde sie förmlich organisirt und brach der Unmuth des Volks in
lichten Flammen aus. Die religiöse Knechtschaft, zu der man sich verurtheilt
sah, stand in directem Gegensatz zu dem größeren Maß der dem Bauern¬
stande gewordenen politischen Freiheit und wurde gerade jetzt, ihrer
ganzen Schwere nach empfunden*); überdies wußte man, daß der humane
neue Herrscher die verwerflichen Mittel, welche die Propagandisten von 1845
angewandt, entschieden mißbilligt, die ganze Bewegung ungern gesehen
hatte. Aus dem passiven Widerstände ging man zu energischem Handeln
über: Tausende von lettischen und chemischen Gliedern der griechischen Kirche
(namentlich die jüngeren Leute, welche nicht selbst übergetreten, sondern auf
Wunsch ihrer Eltern gefirmelt oder auch nachgeboren waren) begnügten sich
nicht mehr damit, die griechischen Gottesdienste zu meiden -- sie erklärten
feierlich diese ihnen stets fremd gebliebene Kirche und deren Uebungen meiden
und zum Lutherthum zurückkehren zu wollen. Vergeblich waren alle Drohungen
der griechischen Priester, vergeblich die Weigerungen der lutherischen Pastoren,
welche darauf hinwiesen, daß die Zulassung griechischer Glaubensgenossen
zu lutherischen Altären mit Amtsentsetzung belegt sei. -- die einmal in Fluß
gekommene Bewegung gehorchte nur noch ihren eigenen Gesetzen und wuchs



Da höchstens V9 --Vio "iter Letten und Ehlen abgefallen, die große Majorität der luthe.
rischen Kirche treu geblieben war, so hatten die Convertiten überdies noch das Gefühl schlechter
gestellt zu sein, als die meisten ihrer Landsleute, welche gebildete Lehrer, Schulen, eine ge¬
nügende Erbauungsliteratur u. f. w. besaßen und von jedem Zwang frei waren.

bedrohten. Je strenger der Clerus mit diesen drohte, desto mehr steigerte
sich die Abneigung der Massen, deren passiver Widerstand bald nicht mehr
zu bewältigen war. Besonders böses Blut machte es. daß die griechischen
Priester immer wieder Personen als Convertiten reclamirten. die niemals
übergetreten zu sein behaupteten und daß diese Renitenten, welche unter
keinen Umständen zum griechischen Sacrament des Altars gingen (auch dieses
bedingt Zugehörigkeit zur griech. Kirche), dafür mit Ruthenhieben be¬
straft wurden. Das Schlimmste war die Einwirkung dieses kirchlichen Par-
teikawpfs auf die öffentliche Sittlichkeit. Da die in gemischten Ehen erzeugten
Kinder nach Vorschrift des Gesetzes der griechischen Kirche verfielen, uneheliche
Kinder aus gemischten Verbindungen (gemäß einer im I/ 1862 erlassenen
Bestimmung der livländischen Bauern>Verordnung) aber je nachdem der Vater
oder die Mutter sich ihrer annahmen, die Wahl der Confession frei hatten, so
nahmen die Concubinate gerade unter den ernst gesinnten und gewissenhaften
Leuten massenhaft zu.

So lange das strenge Regiment des Kaisers Nikolaus jede freiere Regung
niederhielt, beschränkte sich diese Bewegung unter dem keltisch-chemischen Land¬
volk auf relativ bescheidene Proportionen. Nach der Thronbesteigung Alexan¬
ders II. wurde sie förmlich organisirt und brach der Unmuth des Volks in
lichten Flammen aus. Die religiöse Knechtschaft, zu der man sich verurtheilt
sah, stand in directem Gegensatz zu dem größeren Maß der dem Bauern¬
stande gewordenen politischen Freiheit und wurde gerade jetzt, ihrer
ganzen Schwere nach empfunden*); überdies wußte man, daß der humane
neue Herrscher die verwerflichen Mittel, welche die Propagandisten von 1845
angewandt, entschieden mißbilligt, die ganze Bewegung ungern gesehen
hatte. Aus dem passiven Widerstände ging man zu energischem Handeln
über: Tausende von lettischen und chemischen Gliedern der griechischen Kirche
(namentlich die jüngeren Leute, welche nicht selbst übergetreten, sondern auf
Wunsch ihrer Eltern gefirmelt oder auch nachgeboren waren) begnügten sich
nicht mehr damit, die griechischen Gottesdienste zu meiden — sie erklärten
feierlich diese ihnen stets fremd gebliebene Kirche und deren Uebungen meiden
und zum Lutherthum zurückkehren zu wollen. Vergeblich waren alle Drohungen
der griechischen Priester, vergeblich die Weigerungen der lutherischen Pastoren,
welche darauf hinwiesen, daß die Zulassung griechischer Glaubensgenossen
zu lutherischen Altären mit Amtsentsetzung belegt sei. — die einmal in Fluß
gekommene Bewegung gehorchte nur noch ihren eigenen Gesetzen und wuchs



Da höchstens V9 —Vio "iter Letten und Ehlen abgefallen, die große Majorität der luthe.
rischen Kirche treu geblieben war, so hatten die Convertiten überdies noch das Gefühl schlechter
gestellt zu sein, als die meisten ihrer Landsleute, welche gebildete Lehrer, Schulen, eine ge¬
nügende Erbauungsliteratur u. f. w. besaßen und von jedem Zwang frei waren.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0016" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/120703"/>
          <p xml:id="ID_32" prev="#ID_31"> bedrohten. Je strenger der Clerus mit diesen drohte, desto mehr steigerte<lb/>
sich die Abneigung der Massen, deren passiver Widerstand bald nicht mehr<lb/>
zu bewältigen war. Besonders böses Blut machte es. daß die griechischen<lb/>
Priester immer wieder Personen als Convertiten reclamirten. die niemals<lb/>
übergetreten zu sein behaupteten und daß diese Renitenten, welche unter<lb/>
keinen Umständen zum griechischen Sacrament des Altars gingen (auch dieses<lb/>
bedingt Zugehörigkeit zur griech. Kirche), dafür mit Ruthenhieben be¬<lb/>
straft wurden. Das Schlimmste war die Einwirkung dieses kirchlichen Par-<lb/>
teikawpfs auf die öffentliche Sittlichkeit. Da die in gemischten Ehen erzeugten<lb/>
Kinder nach Vorschrift des Gesetzes der griechischen Kirche verfielen, uneheliche<lb/>
Kinder aus gemischten Verbindungen (gemäß einer im I/ 1862 erlassenen<lb/>
Bestimmung der livländischen Bauern&gt;Verordnung) aber je nachdem der Vater<lb/>
oder die Mutter sich ihrer annahmen, die Wahl der Confession frei hatten, so<lb/>
nahmen die Concubinate gerade unter den ernst gesinnten und gewissenhaften<lb/>
Leuten massenhaft zu.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_33" next="#ID_34"> So lange das strenge Regiment des Kaisers Nikolaus jede freiere Regung<lb/>
niederhielt, beschränkte sich diese Bewegung unter dem keltisch-chemischen Land¬<lb/>
volk auf relativ bescheidene Proportionen. Nach der Thronbesteigung Alexan¬<lb/>
ders II. wurde sie förmlich organisirt und brach der Unmuth des Volks in<lb/>
lichten Flammen aus. Die religiöse Knechtschaft, zu der man sich verurtheilt<lb/>
sah, stand in directem Gegensatz zu dem größeren Maß der dem Bauern¬<lb/>
stande gewordenen politischen Freiheit und wurde gerade jetzt, ihrer<lb/>
ganzen Schwere nach empfunden*); überdies wußte man, daß der humane<lb/>
neue Herrscher die verwerflichen Mittel, welche die Propagandisten von 1845<lb/>
angewandt, entschieden mißbilligt, die ganze Bewegung ungern gesehen<lb/>
hatte. Aus dem passiven Widerstände ging man zu energischem Handeln<lb/>
über: Tausende von lettischen und chemischen Gliedern der griechischen Kirche<lb/>
(namentlich die jüngeren Leute, welche nicht selbst übergetreten, sondern auf<lb/>
Wunsch ihrer Eltern gefirmelt oder auch nachgeboren waren) begnügten sich<lb/>
nicht mehr damit, die griechischen Gottesdienste zu meiden &#x2014; sie erklärten<lb/>
feierlich diese ihnen stets fremd gebliebene Kirche und deren Uebungen meiden<lb/>
und zum Lutherthum zurückkehren zu wollen. Vergeblich waren alle Drohungen<lb/>
der griechischen Priester, vergeblich die Weigerungen der lutherischen Pastoren,<lb/>
welche darauf hinwiesen, daß die Zulassung griechischer Glaubensgenossen<lb/>
zu lutherischen Altären mit Amtsentsetzung belegt sei. &#x2014; die einmal in Fluß<lb/>
gekommene Bewegung gehorchte nur noch ihren eigenen Gesetzen und wuchs</p><lb/>
          <note xml:id="FID_2" place="foot"> Da höchstens V9 &#x2014;Vio "iter Letten und Ehlen abgefallen, die große Majorität der luthe.<lb/>
rischen Kirche treu geblieben war, so hatten die Convertiten überdies noch das Gefühl schlechter<lb/>
gestellt zu sein, als die meisten ihrer Landsleute, welche gebildete Lehrer, Schulen, eine ge¬<lb/>
nügende Erbauungsliteratur u. f. w. besaßen und von jedem Zwang frei waren.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0016] bedrohten. Je strenger der Clerus mit diesen drohte, desto mehr steigerte sich die Abneigung der Massen, deren passiver Widerstand bald nicht mehr zu bewältigen war. Besonders böses Blut machte es. daß die griechischen Priester immer wieder Personen als Convertiten reclamirten. die niemals übergetreten zu sein behaupteten und daß diese Renitenten, welche unter keinen Umständen zum griechischen Sacrament des Altars gingen (auch dieses bedingt Zugehörigkeit zur griech. Kirche), dafür mit Ruthenhieben be¬ straft wurden. Das Schlimmste war die Einwirkung dieses kirchlichen Par- teikawpfs auf die öffentliche Sittlichkeit. Da die in gemischten Ehen erzeugten Kinder nach Vorschrift des Gesetzes der griechischen Kirche verfielen, uneheliche Kinder aus gemischten Verbindungen (gemäß einer im I/ 1862 erlassenen Bestimmung der livländischen Bauern>Verordnung) aber je nachdem der Vater oder die Mutter sich ihrer annahmen, die Wahl der Confession frei hatten, so nahmen die Concubinate gerade unter den ernst gesinnten und gewissenhaften Leuten massenhaft zu. So lange das strenge Regiment des Kaisers Nikolaus jede freiere Regung niederhielt, beschränkte sich diese Bewegung unter dem keltisch-chemischen Land¬ volk auf relativ bescheidene Proportionen. Nach der Thronbesteigung Alexan¬ ders II. wurde sie förmlich organisirt und brach der Unmuth des Volks in lichten Flammen aus. Die religiöse Knechtschaft, zu der man sich verurtheilt sah, stand in directem Gegensatz zu dem größeren Maß der dem Bauern¬ stande gewordenen politischen Freiheit und wurde gerade jetzt, ihrer ganzen Schwere nach empfunden*); überdies wußte man, daß der humane neue Herrscher die verwerflichen Mittel, welche die Propagandisten von 1845 angewandt, entschieden mißbilligt, die ganze Bewegung ungern gesehen hatte. Aus dem passiven Widerstände ging man zu energischem Handeln über: Tausende von lettischen und chemischen Gliedern der griechischen Kirche (namentlich die jüngeren Leute, welche nicht selbst übergetreten, sondern auf Wunsch ihrer Eltern gefirmelt oder auch nachgeboren waren) begnügten sich nicht mehr damit, die griechischen Gottesdienste zu meiden — sie erklärten feierlich diese ihnen stets fremd gebliebene Kirche und deren Uebungen meiden und zum Lutherthum zurückkehren zu wollen. Vergeblich waren alle Drohungen der griechischen Priester, vergeblich die Weigerungen der lutherischen Pastoren, welche darauf hinwiesen, daß die Zulassung griechischer Glaubensgenossen zu lutherischen Altären mit Amtsentsetzung belegt sei. — die einmal in Fluß gekommene Bewegung gehorchte nur noch ihren eigenen Gesetzen und wuchs Da höchstens V9 —Vio "iter Letten und Ehlen abgefallen, die große Majorität der luthe. rischen Kirche treu geblieben war, so hatten die Convertiten überdies noch das Gefühl schlechter gestellt zu sein, als die meisten ihrer Landsleute, welche gebildete Lehrer, Schulen, eine ge¬ nügende Erbauungsliteratur u. f. w. besaßen und von jedem Zwang frei waren.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/16
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/16>, abgerufen am 24.07.2024.