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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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-- man kann wohl sagen naturgesetzmäßigen -- Ueberschuß der weiblichen
über die männliche Bevölkerung Rücksicht genommen werden muß.

Denn übelsituirte verheirathete Frauen bedürfen einer anderen Art von
Hülfe, als übelsituirte unverheirathete.

Nichts -- kann man sagen -- ist charakteristischer für die Culturstufe,
auf welcher sich ein Volk in vergangenen Zeiten befunden hat, als das Ge¬
präge seiner Ideale. Die wirklichen wirthschaftlichen, gesellschaftlichen und
Bildungszustände selbst der gebildetsten Classe eines gegebenen Volkes sind
ungemein mannichfaltig und wandelbar. Weitaus faßbarer, weil weitaus
stabiler, sind die Anschauungen der Gebildetsten über diejenigen Zustände,
welche ihnen am meisten wünschenswerth dünken.

Die Nachkommen unserer Nachkommen werden über die wirklichen Cul¬
turzustände ihrer Vorfahren sich unterrichten können, indem sie aus der
Quelle der Statistik, die erst in unseren Tagen reichlich zu fließen beginnt,
unmittelbar schöpfen. Wir haben es weit schwerer, uns über den Cultur¬
stand unserer Vorfahren zu unterrichten. Und das zuverlässigste Bild ge¬
währt uns immer noch, was an Denkmalen der Kunst auf uns gekommen.
Die culturgeschichtlich werthvollsten unter diesen Denkmalen sind jene, aus
denen wir die Idealvorstellungen der Vorzeit zu lesen vermögen. Aus einer
Combination solcher Ueberlieferungen ergänzen wir uns das Bild der ver¬
gangenen Wirklichkeit.

Welche Vorstellungen werden sich unsere Nachkommen machen von unseren
Anschauungen über die wünschenswerthe Stellung des Weibes? Wenn sie
die auf sie kommenden Ueberlieferungen richtig zu deuten verstehen, werden
sie sagen. wir seien zwar auch in diesem Punkte ein nüchternes Geschlecht ge¬
wesen, aus einer Periode der Unnatur und des überschwänglichen Idealismus
zurückgeleitet zu der Befähigung, die Dinge zu nehmen wie sie sink; aber
wir hätten doch eine hohe und geläuterte Vorstellung von den Aufgaben des
Weibes gehabt, und unsere Anforderungen an die ihm gebührende Stellung
seien viel weiter gegangen, als in allen früheren Jahrhunderten. Wir hätten
uns veschieden. daß nicht alle heirathsfähigen Frauen verheirathet sein können;
aber wir hätten die Beseitigung aller uns überkommenen künstlichen Ehehinder¬
nisse eifrig angestrebt, wie überhaupt unsere Zeit sich auszeichne durch ein
ernstes Streben danach, dem Menschen die freie Entscheidung in höchstper¬
sönlichen Angelegenheiten thunlichst zu überlassen.

Die Ehe habe unsere Zeit vorgestellt als eine innige Lebensgemeinschaft,
bestimmt, außer zur Erfüllung natürlicher Funktionen, zur sittlichen Läute¬
rung und Kräftigung beider Theile, zur Sänftigung des rauheren Mannes
und zur Stütze des schwächeren Weibes; in dieser Ehe haben wir jedem
Theile gleiche Rechte und jedem gleiche Pflichten dem anderen gegenüber zu-


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— man kann wohl sagen naturgesetzmäßigen — Ueberschuß der weiblichen
über die männliche Bevölkerung Rücksicht genommen werden muß.

Denn übelsituirte verheirathete Frauen bedürfen einer anderen Art von
Hülfe, als übelsituirte unverheirathete.

Nichts — kann man sagen — ist charakteristischer für die Culturstufe,
auf welcher sich ein Volk in vergangenen Zeiten befunden hat, als das Ge¬
präge seiner Ideale. Die wirklichen wirthschaftlichen, gesellschaftlichen und
Bildungszustände selbst der gebildetsten Classe eines gegebenen Volkes sind
ungemein mannichfaltig und wandelbar. Weitaus faßbarer, weil weitaus
stabiler, sind die Anschauungen der Gebildetsten über diejenigen Zustände,
welche ihnen am meisten wünschenswerth dünken.

Die Nachkommen unserer Nachkommen werden über die wirklichen Cul¬
turzustände ihrer Vorfahren sich unterrichten können, indem sie aus der
Quelle der Statistik, die erst in unseren Tagen reichlich zu fließen beginnt,
unmittelbar schöpfen. Wir haben es weit schwerer, uns über den Cultur¬
stand unserer Vorfahren zu unterrichten. Und das zuverlässigste Bild ge¬
währt uns immer noch, was an Denkmalen der Kunst auf uns gekommen.
Die culturgeschichtlich werthvollsten unter diesen Denkmalen sind jene, aus
denen wir die Idealvorstellungen der Vorzeit zu lesen vermögen. Aus einer
Combination solcher Ueberlieferungen ergänzen wir uns das Bild der ver¬
gangenen Wirklichkeit.

Welche Vorstellungen werden sich unsere Nachkommen machen von unseren
Anschauungen über die wünschenswerthe Stellung des Weibes? Wenn sie
die auf sie kommenden Ueberlieferungen richtig zu deuten verstehen, werden
sie sagen. wir seien zwar auch in diesem Punkte ein nüchternes Geschlecht ge¬
wesen, aus einer Periode der Unnatur und des überschwänglichen Idealismus
zurückgeleitet zu der Befähigung, die Dinge zu nehmen wie sie sink; aber
wir hätten doch eine hohe und geläuterte Vorstellung von den Aufgaben des
Weibes gehabt, und unsere Anforderungen an die ihm gebührende Stellung
seien viel weiter gegangen, als in allen früheren Jahrhunderten. Wir hätten
uns veschieden. daß nicht alle heirathsfähigen Frauen verheirathet sein können;
aber wir hätten die Beseitigung aller uns überkommenen künstlichen Ehehinder¬
nisse eifrig angestrebt, wie überhaupt unsere Zeit sich auszeichne durch ein
ernstes Streben danach, dem Menschen die freie Entscheidung in höchstper¬
sönlichen Angelegenheiten thunlichst zu überlassen.

Die Ehe habe unsere Zeit vorgestellt als eine innige Lebensgemeinschaft,
bestimmt, außer zur Erfüllung natürlicher Funktionen, zur sittlichen Läute¬
rung und Kräftigung beider Theile, zur Sänftigung des rauheren Mannes
und zur Stütze des schwächeren Weibes; in dieser Ehe haben wir jedem
Theile gleiche Rechte und jedem gleiche Pflichten dem anderen gegenüber zu-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/131>, abgerufen am 24.07.2024.