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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band.

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am Eingang mehrerer hier zusammenlaufender waldiger Albthäler, durch den
hier beginnenden schwierigen Albübergang, den erst die Arbeiten am Söme-
ring und am Brenner in eine bescheidenere Linie zurückgedrängt haben, und
endlich durch die kunstvollen zierlichen Beinschnitzereien, welche den Reisenden
der paris-wiener Linie am dortigen Bahnhof entgegengebracht werden. Aber
auch sein politischer Ruf ist im Grunde älter als der Nationalverein. Seit
dem Jahr 1830 war Geislingen der Wahlort des alten Römer, und es ist
diesem Haupt unseres vormärzlichen Liberalismus bis zu dessen Tode treu¬
geblieben. Von da an übertrugen die Geislinger ihr Landtagsmandat Römer
dem Sohne, und dem Zuge der Zeit folgend, waren sie stolz darauf, wie
früher eine Burg des Liberalismus, so jetzt eine Burg des nationalen Ge¬
dankens zu sein. Diese Wahlen geschahen aber niemals ohne heftige Kämpfe;
denn während die Stadt protestantisch, freisinnig und national gesinnt ist,
ist der größere Theil des Landbezirks katholisch, und gehorcht der kirchlichen
Leitung. Bei diesem Verhältniß sind die Geislinger schon lange an eine
streng organisirte Parteithätigkeit gewöhnt, nur durch sie konnten sie die
Clencalen jedesmal besiegen -- ausgenommen bei den Zollparlamentswahlen,
bei welchen sie überstimmt wurden durch die beiden anderen Bezirke, mit
denen sie zu einem Wahlkreis vereinigt waren. Die Katholiken sind sogar
an Zahl unstreitig überlegen. Allein außer ihrer Parteiorganisation pflegt
den Geislingern noch der zufällige Umstand zu gut zu kommen, daß der be¬
deutendste katholische Ort des Bezirks eine Bevölkerung hat, welche der Kunst
des Tünchens seit alten Zeiten besonders zugethan, ein nomadisches Leben
liebt und in dieser ihrer Beschäftigung durch heimische Wahlkämpfe sich nicht
stören läßt. Anstatt nach Hause zur Wahlurne zu eilen, fahren sie unver-
d> offen fort, die bedenklich gewordenen Außenseiten schwäbischer Wohnhäuser
ob und unter der Steig neu zu verblenden. weßhalb ein witziger Prälat der
Meinung war, daß die Wahl Römers einzig der "Verblendung des Landes"
zu danken sei.

Hier in Geislingen war es auch, wo es dem jetzigen König von Preußen
eines Tags begegnete, wider Vermuthen zum Kaiser von Deutschland aus¬
gerufen zu werden. Die Sache trug sich folgendermaßen zu. Es war an
einem schönen Octobertag im Jahr nach dem deutschen Krieg. Der König
von Preußen hatte sich damals in Baden aufgehalten, und es ging die Sage,
die süddeutschen Fürsten würden zum offenkundiger Beweis ihrer bundes-
genössischen Gesinnung einen gemeinsamen Besuch beim Könige, sei es an den
Ufern des Bodensees, sei es auf der im Herzen Schwabens aufsteigenden Stamm¬
burg Hohenzollern abstatten. Leider scheinen jedoch die Gefühle der süddeutschen
Landesfürsten für eine solche unmißverständliche Kundgebung noch nicht reif
gewesen zu sein. Dagegen kam der König von Preußen von der Mairan


am Eingang mehrerer hier zusammenlaufender waldiger Albthäler, durch den
hier beginnenden schwierigen Albübergang, den erst die Arbeiten am Söme-
ring und am Brenner in eine bescheidenere Linie zurückgedrängt haben, und
endlich durch die kunstvollen zierlichen Beinschnitzereien, welche den Reisenden
der paris-wiener Linie am dortigen Bahnhof entgegengebracht werden. Aber
auch sein politischer Ruf ist im Grunde älter als der Nationalverein. Seit
dem Jahr 1830 war Geislingen der Wahlort des alten Römer, und es ist
diesem Haupt unseres vormärzlichen Liberalismus bis zu dessen Tode treu¬
geblieben. Von da an übertrugen die Geislinger ihr Landtagsmandat Römer
dem Sohne, und dem Zuge der Zeit folgend, waren sie stolz darauf, wie
früher eine Burg des Liberalismus, so jetzt eine Burg des nationalen Ge¬
dankens zu sein. Diese Wahlen geschahen aber niemals ohne heftige Kämpfe;
denn während die Stadt protestantisch, freisinnig und national gesinnt ist,
ist der größere Theil des Landbezirks katholisch, und gehorcht der kirchlichen
Leitung. Bei diesem Verhältniß sind die Geislinger schon lange an eine
streng organisirte Parteithätigkeit gewöhnt, nur durch sie konnten sie die
Clencalen jedesmal besiegen — ausgenommen bei den Zollparlamentswahlen,
bei welchen sie überstimmt wurden durch die beiden anderen Bezirke, mit
denen sie zu einem Wahlkreis vereinigt waren. Die Katholiken sind sogar
an Zahl unstreitig überlegen. Allein außer ihrer Parteiorganisation pflegt
den Geislingern noch der zufällige Umstand zu gut zu kommen, daß der be¬
deutendste katholische Ort des Bezirks eine Bevölkerung hat, welche der Kunst
des Tünchens seit alten Zeiten besonders zugethan, ein nomadisches Leben
liebt und in dieser ihrer Beschäftigung durch heimische Wahlkämpfe sich nicht
stören läßt. Anstatt nach Hause zur Wahlurne zu eilen, fahren sie unver-
d> offen fort, die bedenklich gewordenen Außenseiten schwäbischer Wohnhäuser
ob und unter der Steig neu zu verblenden. weßhalb ein witziger Prälat der
Meinung war, daß die Wahl Römers einzig der „Verblendung des Landes"
zu danken sei.

Hier in Geislingen war es auch, wo es dem jetzigen König von Preußen
eines Tags begegnete, wider Vermuthen zum Kaiser von Deutschland aus¬
gerufen zu werden. Die Sache trug sich folgendermaßen zu. Es war an
einem schönen Octobertag im Jahr nach dem deutschen Krieg. Der König
von Preußen hatte sich damals in Baden aufgehalten, und es ging die Sage,
die süddeutschen Fürsten würden zum offenkundiger Beweis ihrer bundes-
genössischen Gesinnung einen gemeinsamen Besuch beim Könige, sei es an den
Ufern des Bodensees, sei es auf der im Herzen Schwabens aufsteigenden Stamm¬
burg Hohenzollern abstatten. Leider scheinen jedoch die Gefühle der süddeutschen
Landesfürsten für eine solche unmißverständliche Kundgebung noch nicht reif
gewesen zu sein. Dagegen kam der König von Preußen von der Mairan


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[0430] am Eingang mehrerer hier zusammenlaufender waldiger Albthäler, durch den hier beginnenden schwierigen Albübergang, den erst die Arbeiten am Söme- ring und am Brenner in eine bescheidenere Linie zurückgedrängt haben, und endlich durch die kunstvollen zierlichen Beinschnitzereien, welche den Reisenden der paris-wiener Linie am dortigen Bahnhof entgegengebracht werden. Aber auch sein politischer Ruf ist im Grunde älter als der Nationalverein. Seit dem Jahr 1830 war Geislingen der Wahlort des alten Römer, und es ist diesem Haupt unseres vormärzlichen Liberalismus bis zu dessen Tode treu¬ geblieben. Von da an übertrugen die Geislinger ihr Landtagsmandat Römer dem Sohne, und dem Zuge der Zeit folgend, waren sie stolz darauf, wie früher eine Burg des Liberalismus, so jetzt eine Burg des nationalen Ge¬ dankens zu sein. Diese Wahlen geschahen aber niemals ohne heftige Kämpfe; denn während die Stadt protestantisch, freisinnig und national gesinnt ist, ist der größere Theil des Landbezirks katholisch, und gehorcht der kirchlichen Leitung. Bei diesem Verhältniß sind die Geislinger schon lange an eine streng organisirte Parteithätigkeit gewöhnt, nur durch sie konnten sie die Clencalen jedesmal besiegen — ausgenommen bei den Zollparlamentswahlen, bei welchen sie überstimmt wurden durch die beiden anderen Bezirke, mit denen sie zu einem Wahlkreis vereinigt waren. Die Katholiken sind sogar an Zahl unstreitig überlegen. Allein außer ihrer Parteiorganisation pflegt den Geislingern noch der zufällige Umstand zu gut zu kommen, daß der be¬ deutendste katholische Ort des Bezirks eine Bevölkerung hat, welche der Kunst des Tünchens seit alten Zeiten besonders zugethan, ein nomadisches Leben liebt und in dieser ihrer Beschäftigung durch heimische Wahlkämpfe sich nicht stören läßt. Anstatt nach Hause zur Wahlurne zu eilen, fahren sie unver- d> offen fort, die bedenklich gewordenen Außenseiten schwäbischer Wohnhäuser ob und unter der Steig neu zu verblenden. weßhalb ein witziger Prälat der Meinung war, daß die Wahl Römers einzig der „Verblendung des Landes" zu danken sei. Hier in Geislingen war es auch, wo es dem jetzigen König von Preußen eines Tags begegnete, wider Vermuthen zum Kaiser von Deutschland aus¬ gerufen zu werden. Die Sache trug sich folgendermaßen zu. Es war an einem schönen Octobertag im Jahr nach dem deutschen Krieg. Der König von Preußen hatte sich damals in Baden aufgehalten, und es ging die Sage, die süddeutschen Fürsten würden zum offenkundiger Beweis ihrer bundes- genössischen Gesinnung einen gemeinsamen Besuch beim Könige, sei es an den Ufern des Bodensees, sei es auf der im Herzen Schwabens aufsteigenden Stamm¬ burg Hohenzollern abstatten. Leider scheinen jedoch die Gefühle der süddeutschen Landesfürsten für eine solche unmißverständliche Kundgebung noch nicht reif gewesen zu sein. Dagegen kam der König von Preußen von der Mairan

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120192/430>, abgerufen am 28.09.2024.