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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band.

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ten, die sie enthalten, in vorbereitende Fachschulen für künftige Staatsdiener
und Praktiker, und in eigentlich gelehrte Anstalten, Akademien, oder wie man
sie sonst nennen will. Aber von wem und nach welchen Gesichtspunkten soll
die Scheidung unternommen werden, und das prosaischste, aber gewichtigste
vor Allem, wer soll das Geld für einen solchen enormen Mehraufwand auf¬
bringen? Der Staat? Von ihm kann doch nur gefordert werden, daß er
seine Anstalten dotirt und erhält? Die freie Wissenschaft und ihre Gönner?
Aber es würde sich jährlich um viele Hunderttausende handeln. Außerdem
würden beide Theile durch die Erfahrung sehr bald belehrt werden, daß die
Staatsavrichtungsanstalten ohne den erquickenden Einfluß der freieren wissen¬
schaftlichen Atmosphäre chinesische Papierblumen, aber keine Früchte erzeugten,
während die Akademien durch die Unbestimmtheit und idealistische Leere ihres
Programms gleichsam in der Luft schwebten.

Unser Anonymus, der die Fragestellung des Dilemma's richtig gibt,
will deshalb von diesem Auskunftsmittel Nichts wissen. Er bietet dafür ein
anderes. Die bisherige Art der akademischen Vorträge soll verändert werden.
Neben der systematischen und zusammenhängenden Ueberlieferung gewisser
Disciplinen sollen in viel größerem Umfange als bisher Repetitorien, Exa-
minatorien :c. eingeführt werden. Diese könnten dann dazu dienen, um den
eigentlich praktischen Kern des verschiedenartigsten Wissens herauszuheben und
einzuprägen. Das hört sich recht schön an, aber hält keine nähere Prüfung
aus. Diese "Praktika" würden in größerem Umfange und unter officieller
Firma dasselbe werden, was wir schon zum Ueberfluß haben, nämlich soge¬
nannte Einpaukungsanstalten für die Aspiranten zu den Staatsprüfungen.
Je trivialer sie diese ihre wahre Aufgabe faßten, desto populärer bei der
Majorität, je mehr sie laviren, und mit der Wissenschaft einigermaßen in
Fühlung bleiben, desto unpopulärer, d. h. desto weniger benutzt. Der Schade
wäre damit nicht gehoben, sondern vergrößert.

Wenn es also auf diesem Wege nicht gelingen will, Wissenschaft und
Praxis mit einander zu versöhnen, so muß ein anderer gesucht werden. Die¬
ser ist unseres Bedünkens nur durch eine rückhaltlose Anerkennung und Durch¬
führung der rein theoretisch-wissenschaftlichen Aufgabe der Universitätsbildung
zu finden. Universität und Staat müssen beide einander dabei entgegenkom-
men und unterstützen. Thatsächlich handelt es sich auch nur um die eine
Jurisprudenz, denn in den anderen Facultäten existirt schon im Wesentlichen
jene gesunde Vermittelung zwischen Wissenschaft und Praxis, obgleich im Ein¬
zelnen natürlich auch da noch Vieles zu reformiren und auch neuzuschassen
bleibt. Unsere Juristenfacultäten müssen ihren bisherigen Lehrplan bedeu¬
tend erweitern, und den ganzen Umfang des Rechtsmaterials gleichmäßig der
strengsten und exactesten theoretisch-wissenschaftlichen Behandlung unterziehen,


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ten, die sie enthalten, in vorbereitende Fachschulen für künftige Staatsdiener
und Praktiker, und in eigentlich gelehrte Anstalten, Akademien, oder wie man
sie sonst nennen will. Aber von wem und nach welchen Gesichtspunkten soll
die Scheidung unternommen werden, und das prosaischste, aber gewichtigste
vor Allem, wer soll das Geld für einen solchen enormen Mehraufwand auf¬
bringen? Der Staat? Von ihm kann doch nur gefordert werden, daß er
seine Anstalten dotirt und erhält? Die freie Wissenschaft und ihre Gönner?
Aber es würde sich jährlich um viele Hunderttausende handeln. Außerdem
würden beide Theile durch die Erfahrung sehr bald belehrt werden, daß die
Staatsavrichtungsanstalten ohne den erquickenden Einfluß der freieren wissen¬
schaftlichen Atmosphäre chinesische Papierblumen, aber keine Früchte erzeugten,
während die Akademien durch die Unbestimmtheit und idealistische Leere ihres
Programms gleichsam in der Luft schwebten.

Unser Anonymus, der die Fragestellung des Dilemma's richtig gibt,
will deshalb von diesem Auskunftsmittel Nichts wissen. Er bietet dafür ein
anderes. Die bisherige Art der akademischen Vorträge soll verändert werden.
Neben der systematischen und zusammenhängenden Ueberlieferung gewisser
Disciplinen sollen in viel größerem Umfange als bisher Repetitorien, Exa-
minatorien :c. eingeführt werden. Diese könnten dann dazu dienen, um den
eigentlich praktischen Kern des verschiedenartigsten Wissens herauszuheben und
einzuprägen. Das hört sich recht schön an, aber hält keine nähere Prüfung
aus. Diese „Praktika" würden in größerem Umfange und unter officieller
Firma dasselbe werden, was wir schon zum Ueberfluß haben, nämlich soge¬
nannte Einpaukungsanstalten für die Aspiranten zu den Staatsprüfungen.
Je trivialer sie diese ihre wahre Aufgabe faßten, desto populärer bei der
Majorität, je mehr sie laviren, und mit der Wissenschaft einigermaßen in
Fühlung bleiben, desto unpopulärer, d. h. desto weniger benutzt. Der Schade
wäre damit nicht gehoben, sondern vergrößert.

Wenn es also auf diesem Wege nicht gelingen will, Wissenschaft und
Praxis mit einander zu versöhnen, so muß ein anderer gesucht werden. Die¬
ser ist unseres Bedünkens nur durch eine rückhaltlose Anerkennung und Durch¬
führung der rein theoretisch-wissenschaftlichen Aufgabe der Universitätsbildung
zu finden. Universität und Staat müssen beide einander dabei entgegenkom-
men und unterstützen. Thatsächlich handelt es sich auch nur um die eine
Jurisprudenz, denn in den anderen Facultäten existirt schon im Wesentlichen
jene gesunde Vermittelung zwischen Wissenschaft und Praxis, obgleich im Ein¬
zelnen natürlich auch da noch Vieles zu reformiren und auch neuzuschassen
bleibt. Unsere Juristenfacultäten müssen ihren bisherigen Lehrplan bedeu¬
tend erweitern, und den ganzen Umfang des Rechtsmaterials gleichmäßig der
strengsten und exactesten theoretisch-wissenschaftlichen Behandlung unterziehen,


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[0423] ten, die sie enthalten, in vorbereitende Fachschulen für künftige Staatsdiener und Praktiker, und in eigentlich gelehrte Anstalten, Akademien, oder wie man sie sonst nennen will. Aber von wem und nach welchen Gesichtspunkten soll die Scheidung unternommen werden, und das prosaischste, aber gewichtigste vor Allem, wer soll das Geld für einen solchen enormen Mehraufwand auf¬ bringen? Der Staat? Von ihm kann doch nur gefordert werden, daß er seine Anstalten dotirt und erhält? Die freie Wissenschaft und ihre Gönner? Aber es würde sich jährlich um viele Hunderttausende handeln. Außerdem würden beide Theile durch die Erfahrung sehr bald belehrt werden, daß die Staatsavrichtungsanstalten ohne den erquickenden Einfluß der freieren wissen¬ schaftlichen Atmosphäre chinesische Papierblumen, aber keine Früchte erzeugten, während die Akademien durch die Unbestimmtheit und idealistische Leere ihres Programms gleichsam in der Luft schwebten. Unser Anonymus, der die Fragestellung des Dilemma's richtig gibt, will deshalb von diesem Auskunftsmittel Nichts wissen. Er bietet dafür ein anderes. Die bisherige Art der akademischen Vorträge soll verändert werden. Neben der systematischen und zusammenhängenden Ueberlieferung gewisser Disciplinen sollen in viel größerem Umfange als bisher Repetitorien, Exa- minatorien :c. eingeführt werden. Diese könnten dann dazu dienen, um den eigentlich praktischen Kern des verschiedenartigsten Wissens herauszuheben und einzuprägen. Das hört sich recht schön an, aber hält keine nähere Prüfung aus. Diese „Praktika" würden in größerem Umfange und unter officieller Firma dasselbe werden, was wir schon zum Ueberfluß haben, nämlich soge¬ nannte Einpaukungsanstalten für die Aspiranten zu den Staatsprüfungen. Je trivialer sie diese ihre wahre Aufgabe faßten, desto populärer bei der Majorität, je mehr sie laviren, und mit der Wissenschaft einigermaßen in Fühlung bleiben, desto unpopulärer, d. h. desto weniger benutzt. Der Schade wäre damit nicht gehoben, sondern vergrößert. Wenn es also auf diesem Wege nicht gelingen will, Wissenschaft und Praxis mit einander zu versöhnen, so muß ein anderer gesucht werden. Die¬ ser ist unseres Bedünkens nur durch eine rückhaltlose Anerkennung und Durch¬ führung der rein theoretisch-wissenschaftlichen Aufgabe der Universitätsbildung zu finden. Universität und Staat müssen beide einander dabei entgegenkom- men und unterstützen. Thatsächlich handelt es sich auch nur um die eine Jurisprudenz, denn in den anderen Facultäten existirt schon im Wesentlichen jene gesunde Vermittelung zwischen Wissenschaft und Praxis, obgleich im Ein¬ zelnen natürlich auch da noch Vieles zu reformiren und auch neuzuschassen bleibt. Unsere Juristenfacultäten müssen ihren bisherigen Lehrplan bedeu¬ tend erweitern, und den ganzen Umfang des Rechtsmaterials gleichmäßig der strengsten und exactesten theoretisch-wissenschaftlichen Behandlung unterziehen, 52*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120192/423>, abgerufen am 21.10.2024.