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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band.

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Gespenst ist entschieden verfrüht, und kann schon darum die gewünschten
Früchte nicht tragen. Die Klasse der unter der Socialistenfurcht aufgewach¬
senen Franzosen ist überhaupt in der Abnahme begriffen und hat in der
unter dem gegenwärtigen Regime großgewordenen Generation keinen Nach¬
wuchs, -- ein Umstand, der sich bei den bevorstehenden Neuwahlen bereits
geltend machen wird. -- Für die nächste Woche steht dem gesetzgebenden
Körper die Berathung über den Gesetzentwurf bevor, der die Budgets von
Paris und Lyon unter die Controle der Volksvertretung stellen soll. Bei¬
spiellos ist nicht nur, daß die Selbstverwaltung großer Communen auf diese
Weise auch des letzten Scheins von Unabhängigkeit beraubt wird, sondern
daß diese Maßregel den Parisern und Lyonesern angesichts der Allmacht
ihrer Präfecten als Wohlthat erscheint, und daß offen eingestanden wird, die
Glieder der pariser Municipalität seien bloße Strohmänner, welche jedem Wink
des Präfecten gehorchen müßten. Wie ein Land, in welchem das Centrali-
sations- und Bevormundungssystem derartig auf die Spitze getrieben ist, je
wieder den Weg zu staatlicher und bürgerlicher Freiheit finden soll, ist für
nichtfranzösische Köpfe ein Räthsel. Einer Nation, der Fähigkeit und Neigung
zur Haushalterschaft im Kleinen völlig abhanden gekommen sind, kann auch
durch die ausgedehntesten Verbesserungen der constitutionellen Maschine nicht
geholfen werden, und die Phrasen von der dereinstigen "Krönung des Gebäu¬
des" verlieren allen Sinn, wenn es sich um ein Haus handelt, das keine
anderen als vergitterte Fenster besitzt.

Während die Rolle, welche die spanischen Ereignisse noch vor einigen
Wochen in Paris spielte, beträchtlich genug war, um für einen de^r Gründe
zu gelten, aus denen Frankreichs auswärtige Politik an freier Action gehin¬
dert sein sollte, ist von derselben in der französischen Hauptstadt neuerdings
nicht mehr Notiz genommen worden, als an anderen Orten. Die Zeiten, in
denen der Gaulis und Herr v. Girardin die Führerschaft der öffentlichen
Meinung auf der pyrenäischen Halbinsel beanspruchten, sind rasch vorüber¬
gegangen, Spanien ist sich selbst wieder überlassen, und gerade in dem
Augenblick, wo es guten Rathes am meisten zu bedürfen scheint. Obgleich
die Monarchisten bei der Constituirung der Cortes die Oberhand behalten
haben, die Männer, welche die Revolution herbeiführten, noch an der Spitze
der freiwillig übernommenen Geschäfte stehen, nimmt die Rathlosigkeit in
demselben Maße zu, in welchem die Stunde der Entscheidung heranrückt.
Trotz der Niederlagen, welche die Republikaner in Cadix und Malaga erlit¬
ten, und trotz des allgemeinen Abscheus, den die clericale Blutthat von Bur-
gos erregt hat, werden die beiden regierungsfeindlichen Parteien mit einer
Schonung behandelt, welche Schlüsse auf das mangelnde Sicherheitsgefühl
der Regierung nähe legt, mit deren Constituirung Serrano beauftragt wor-


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Gespenst ist entschieden verfrüht, und kann schon darum die gewünschten
Früchte nicht tragen. Die Klasse der unter der Socialistenfurcht aufgewach¬
senen Franzosen ist überhaupt in der Abnahme begriffen und hat in der
unter dem gegenwärtigen Regime großgewordenen Generation keinen Nach¬
wuchs, — ein Umstand, der sich bei den bevorstehenden Neuwahlen bereits
geltend machen wird. — Für die nächste Woche steht dem gesetzgebenden
Körper die Berathung über den Gesetzentwurf bevor, der die Budgets von
Paris und Lyon unter die Controle der Volksvertretung stellen soll. Bei¬
spiellos ist nicht nur, daß die Selbstverwaltung großer Communen auf diese
Weise auch des letzten Scheins von Unabhängigkeit beraubt wird, sondern
daß diese Maßregel den Parisern und Lyonesern angesichts der Allmacht
ihrer Präfecten als Wohlthat erscheint, und daß offen eingestanden wird, die
Glieder der pariser Municipalität seien bloße Strohmänner, welche jedem Wink
des Präfecten gehorchen müßten. Wie ein Land, in welchem das Centrali-
sations- und Bevormundungssystem derartig auf die Spitze getrieben ist, je
wieder den Weg zu staatlicher und bürgerlicher Freiheit finden soll, ist für
nichtfranzösische Köpfe ein Räthsel. Einer Nation, der Fähigkeit und Neigung
zur Haushalterschaft im Kleinen völlig abhanden gekommen sind, kann auch
durch die ausgedehntesten Verbesserungen der constitutionellen Maschine nicht
geholfen werden, und die Phrasen von der dereinstigen „Krönung des Gebäu¬
des" verlieren allen Sinn, wenn es sich um ein Haus handelt, das keine
anderen als vergitterte Fenster besitzt.

Während die Rolle, welche die spanischen Ereignisse noch vor einigen
Wochen in Paris spielte, beträchtlich genug war, um für einen de^r Gründe
zu gelten, aus denen Frankreichs auswärtige Politik an freier Action gehin¬
dert sein sollte, ist von derselben in der französischen Hauptstadt neuerdings
nicht mehr Notiz genommen worden, als an anderen Orten. Die Zeiten, in
denen der Gaulis und Herr v. Girardin die Führerschaft der öffentlichen
Meinung auf der pyrenäischen Halbinsel beanspruchten, sind rasch vorüber¬
gegangen, Spanien ist sich selbst wieder überlassen, und gerade in dem
Augenblick, wo es guten Rathes am meisten zu bedürfen scheint. Obgleich
die Monarchisten bei der Constituirung der Cortes die Oberhand behalten
haben, die Männer, welche die Revolution herbeiführten, noch an der Spitze
der freiwillig übernommenen Geschäfte stehen, nimmt die Rathlosigkeit in
demselben Maße zu, in welchem die Stunde der Entscheidung heranrückt.
Trotz der Niederlagen, welche die Republikaner in Cadix und Malaga erlit¬
ten, und trotz des allgemeinen Abscheus, den die clericale Blutthat von Bur-
gos erregt hat, werden die beiden regierungsfeindlichen Parteien mit einer
Schonung behandelt, welche Schlüsse auf das mangelnde Sicherheitsgefühl
der Regierung nähe legt, mit deren Constituirung Serrano beauftragt wor-


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[0343] Gespenst ist entschieden verfrüht, und kann schon darum die gewünschten Früchte nicht tragen. Die Klasse der unter der Socialistenfurcht aufgewach¬ senen Franzosen ist überhaupt in der Abnahme begriffen und hat in der unter dem gegenwärtigen Regime großgewordenen Generation keinen Nach¬ wuchs, — ein Umstand, der sich bei den bevorstehenden Neuwahlen bereits geltend machen wird. — Für die nächste Woche steht dem gesetzgebenden Körper die Berathung über den Gesetzentwurf bevor, der die Budgets von Paris und Lyon unter die Controle der Volksvertretung stellen soll. Bei¬ spiellos ist nicht nur, daß die Selbstverwaltung großer Communen auf diese Weise auch des letzten Scheins von Unabhängigkeit beraubt wird, sondern daß diese Maßregel den Parisern und Lyonesern angesichts der Allmacht ihrer Präfecten als Wohlthat erscheint, und daß offen eingestanden wird, die Glieder der pariser Municipalität seien bloße Strohmänner, welche jedem Wink des Präfecten gehorchen müßten. Wie ein Land, in welchem das Centrali- sations- und Bevormundungssystem derartig auf die Spitze getrieben ist, je wieder den Weg zu staatlicher und bürgerlicher Freiheit finden soll, ist für nichtfranzösische Köpfe ein Räthsel. Einer Nation, der Fähigkeit und Neigung zur Haushalterschaft im Kleinen völlig abhanden gekommen sind, kann auch durch die ausgedehntesten Verbesserungen der constitutionellen Maschine nicht geholfen werden, und die Phrasen von der dereinstigen „Krönung des Gebäu¬ des" verlieren allen Sinn, wenn es sich um ein Haus handelt, das keine anderen als vergitterte Fenster besitzt. Während die Rolle, welche die spanischen Ereignisse noch vor einigen Wochen in Paris spielte, beträchtlich genug war, um für einen de^r Gründe zu gelten, aus denen Frankreichs auswärtige Politik an freier Action gehin¬ dert sein sollte, ist von derselben in der französischen Hauptstadt neuerdings nicht mehr Notiz genommen worden, als an anderen Orten. Die Zeiten, in denen der Gaulis und Herr v. Girardin die Führerschaft der öffentlichen Meinung auf der pyrenäischen Halbinsel beanspruchten, sind rasch vorüber¬ gegangen, Spanien ist sich selbst wieder überlassen, und gerade in dem Augenblick, wo es guten Rathes am meisten zu bedürfen scheint. Obgleich die Monarchisten bei der Constituirung der Cortes die Oberhand behalten haben, die Männer, welche die Revolution herbeiführten, noch an der Spitze der freiwillig übernommenen Geschäfte stehen, nimmt die Rathlosigkeit in demselben Maße zu, in welchem die Stunde der Entscheidung heranrückt. Trotz der Niederlagen, welche die Republikaner in Cadix und Malaga erlit¬ ten, und trotz des allgemeinen Abscheus, den die clericale Blutthat von Bur- gos erregt hat, werden die beiden regierungsfeindlichen Parteien mit einer Schonung behandelt, welche Schlüsse auf das mangelnde Sicherheitsgefühl der Regierung nähe legt, mit deren Constituirung Serrano beauftragt wor- 42*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120192/343>, abgerufen am 28.09.2024.