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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band.

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guten Grund. Im Hintergrunde des neuen Pesther Programms steht der Ge¬
danke daran, daß Ungarn sich für den nicht unmöglichen Fall eines Zusam¬
menbruchs der Habsburgischen Monarchie und Lösung der Beziehungen zu
"Cisleithanien" nach neuen Staatsgenossen umzusehen, und den Gedanken an
eine unter der Stephanskrone versammelte Donauconföderation nicht außer
Augen zu setzen habe. Auch von einem anderen als dem specifisch östreichi¬
schen Standpunkte aus betrachtet, erscheint diese Lösung wenig verlockend und
noch weniger wahrscheinlich. Daß die maygarischen Staatsmänner ihre ge¬
gründeten Zweifel daran haben, ob dem gefürchteten russischen Einfluß wirk¬
lich durch Unterstützung der türkischen Herrschaft entgegengewirkt werde, freilich
ist begreiflich -- auch in Frankreich und England sind verwandte Bedenken
schon vor Jahr und Tag aufgetaucht und bald nach dem Ausbruch des Can-
diotenaufstandes (Herbst 1866) wiederholt erörtert worden; auch daß Graf
Andrassy dem Reichskanzler wiederholt und deutlich zu verstehen gegeben,
Ungarn habe kein Interesse daran, der Pforte neues Blut in die Adern zu
gießen und dadurch den Haß aller Donauslaven zu reizen, finden wir in der
Ordnung. Mehr wie fraglich ist nur, ob die Magyaren jemals daran den¬
ken können, ihre Machtsphäre über die gegenwärtigen Grenzen ihres Staats
hinaus zu erweitern und die südslavische Welt um sich zu gruppiren. Da
Rußland aufs Eifrigste darüber wacht, daß keine europäische Macht auf dem
Boden Einfluß gewinne, den es sich vorbehalten glaubt, so ist nicht abzusehen,
wie es Ungarn gelingen sollte, dieses Hinderniß zu umgehen und das Ver¬
trauen einer Völkerfamilie zu gewinnen, zu deren ältesten Traditionen der
Haß gegen die stolzen "Beherrscher" und "Zwingherrn" der slovenischen und
slovakischen :c. Brüder gehört. -- Das sollte man in Ofen und Pesth noch
genauer wissen, als man es in Wien, Petersburg oder Berlin weiß. Die
Neigung zu Plänen großer auswärtiger Zukunftspolitik, welche seit den
letzten anderthalben Jahren bei den ungarischen Politikern der verschiedensten
Parteien habituell zu werden scheint (besonders üppig übrigens in der von
dem radicalen Grafen Bethlen herausgegebenen "Ungarischen Monatsschrift"
florirt) -- trägt überhaupt einen ungesunden, schwindsüchtiger Charakter, und
macht dem an nüchterne Rechnung mit Realitäten gewöhnten westeuropäischen
Zuschauer den Eindruck des Kindlichen. Da werden in sechs Wochen ebensoviel
große, die Karte Europas umgestaltende Pläne ausgeheckt, wie anderswo in
einem halben Jahrhundert, und die verschiedenen Parteiorgane fechten die er¬
bittertsten Fehden darüber aus, was mit Rumänien, Galizien, Bosnien und
anderen Ländern ungarischer Seits angefangen werden soll, und das in einem
Ton, der lebhaft an die Sprache erinnert, in welcher sich weiland Sir John
Falstaff die Verfügung über die Gesetze Englands zuschrieb.

Seit den letzten Monaten und namentlich seit der Zusammentritt der


guten Grund. Im Hintergrunde des neuen Pesther Programms steht der Ge¬
danke daran, daß Ungarn sich für den nicht unmöglichen Fall eines Zusam¬
menbruchs der Habsburgischen Monarchie und Lösung der Beziehungen zu
„Cisleithanien" nach neuen Staatsgenossen umzusehen, und den Gedanken an
eine unter der Stephanskrone versammelte Donauconföderation nicht außer
Augen zu setzen habe. Auch von einem anderen als dem specifisch östreichi¬
schen Standpunkte aus betrachtet, erscheint diese Lösung wenig verlockend und
noch weniger wahrscheinlich. Daß die maygarischen Staatsmänner ihre ge¬
gründeten Zweifel daran haben, ob dem gefürchteten russischen Einfluß wirk¬
lich durch Unterstützung der türkischen Herrschaft entgegengewirkt werde, freilich
ist begreiflich — auch in Frankreich und England sind verwandte Bedenken
schon vor Jahr und Tag aufgetaucht und bald nach dem Ausbruch des Can-
diotenaufstandes (Herbst 1866) wiederholt erörtert worden; auch daß Graf
Andrassy dem Reichskanzler wiederholt und deutlich zu verstehen gegeben,
Ungarn habe kein Interesse daran, der Pforte neues Blut in die Adern zu
gießen und dadurch den Haß aller Donauslaven zu reizen, finden wir in der
Ordnung. Mehr wie fraglich ist nur, ob die Magyaren jemals daran den¬
ken können, ihre Machtsphäre über die gegenwärtigen Grenzen ihres Staats
hinaus zu erweitern und die südslavische Welt um sich zu gruppiren. Da
Rußland aufs Eifrigste darüber wacht, daß keine europäische Macht auf dem
Boden Einfluß gewinne, den es sich vorbehalten glaubt, so ist nicht abzusehen,
wie es Ungarn gelingen sollte, dieses Hinderniß zu umgehen und das Ver¬
trauen einer Völkerfamilie zu gewinnen, zu deren ältesten Traditionen der
Haß gegen die stolzen „Beherrscher" und „Zwingherrn" der slovenischen und
slovakischen :c. Brüder gehört. — Das sollte man in Ofen und Pesth noch
genauer wissen, als man es in Wien, Petersburg oder Berlin weiß. Die
Neigung zu Plänen großer auswärtiger Zukunftspolitik, welche seit den
letzten anderthalben Jahren bei den ungarischen Politikern der verschiedensten
Parteien habituell zu werden scheint (besonders üppig übrigens in der von
dem radicalen Grafen Bethlen herausgegebenen „Ungarischen Monatsschrift"
florirt) — trägt überhaupt einen ungesunden, schwindsüchtiger Charakter, und
macht dem an nüchterne Rechnung mit Realitäten gewöhnten westeuropäischen
Zuschauer den Eindruck des Kindlichen. Da werden in sechs Wochen ebensoviel
große, die Karte Europas umgestaltende Pläne ausgeheckt, wie anderswo in
einem halben Jahrhundert, und die verschiedenen Parteiorgane fechten die er¬
bittertsten Fehden darüber aus, was mit Rumänien, Galizien, Bosnien und
anderen Ländern ungarischer Seits angefangen werden soll, und das in einem
Ton, der lebhaft an die Sprache erinnert, in welcher sich weiland Sir John
Falstaff die Verfügung über die Gesetze Englands zuschrieb.

Seit den letzten Monaten und namentlich seit der Zusammentritt der


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[0338] guten Grund. Im Hintergrunde des neuen Pesther Programms steht der Ge¬ danke daran, daß Ungarn sich für den nicht unmöglichen Fall eines Zusam¬ menbruchs der Habsburgischen Monarchie und Lösung der Beziehungen zu „Cisleithanien" nach neuen Staatsgenossen umzusehen, und den Gedanken an eine unter der Stephanskrone versammelte Donauconföderation nicht außer Augen zu setzen habe. Auch von einem anderen als dem specifisch östreichi¬ schen Standpunkte aus betrachtet, erscheint diese Lösung wenig verlockend und noch weniger wahrscheinlich. Daß die maygarischen Staatsmänner ihre ge¬ gründeten Zweifel daran haben, ob dem gefürchteten russischen Einfluß wirk¬ lich durch Unterstützung der türkischen Herrschaft entgegengewirkt werde, freilich ist begreiflich — auch in Frankreich und England sind verwandte Bedenken schon vor Jahr und Tag aufgetaucht und bald nach dem Ausbruch des Can- diotenaufstandes (Herbst 1866) wiederholt erörtert worden; auch daß Graf Andrassy dem Reichskanzler wiederholt und deutlich zu verstehen gegeben, Ungarn habe kein Interesse daran, der Pforte neues Blut in die Adern zu gießen und dadurch den Haß aller Donauslaven zu reizen, finden wir in der Ordnung. Mehr wie fraglich ist nur, ob die Magyaren jemals daran den¬ ken können, ihre Machtsphäre über die gegenwärtigen Grenzen ihres Staats hinaus zu erweitern und die südslavische Welt um sich zu gruppiren. Da Rußland aufs Eifrigste darüber wacht, daß keine europäische Macht auf dem Boden Einfluß gewinne, den es sich vorbehalten glaubt, so ist nicht abzusehen, wie es Ungarn gelingen sollte, dieses Hinderniß zu umgehen und das Ver¬ trauen einer Völkerfamilie zu gewinnen, zu deren ältesten Traditionen der Haß gegen die stolzen „Beherrscher" und „Zwingherrn" der slovenischen und slovakischen :c. Brüder gehört. — Das sollte man in Ofen und Pesth noch genauer wissen, als man es in Wien, Petersburg oder Berlin weiß. Die Neigung zu Plänen großer auswärtiger Zukunftspolitik, welche seit den letzten anderthalben Jahren bei den ungarischen Politikern der verschiedensten Parteien habituell zu werden scheint (besonders üppig übrigens in der von dem radicalen Grafen Bethlen herausgegebenen „Ungarischen Monatsschrift" florirt) — trägt überhaupt einen ungesunden, schwindsüchtiger Charakter, und macht dem an nüchterne Rechnung mit Realitäten gewöhnten westeuropäischen Zuschauer den Eindruck des Kindlichen. Da werden in sechs Wochen ebensoviel große, die Karte Europas umgestaltende Pläne ausgeheckt, wie anderswo in einem halben Jahrhundert, und die verschiedenen Parteiorgane fechten die er¬ bittertsten Fehden darüber aus, was mit Rumänien, Galizien, Bosnien und anderen Ländern ungarischer Seits angefangen werden soll, und das in einem Ton, der lebhaft an die Sprache erinnert, in welcher sich weiland Sir John Falstaff die Verfügung über die Gesetze Englands zuschrieb. Seit den letzten Monaten und namentlich seit der Zusammentritt der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120192/338>, abgerufen am 28.09.2024.