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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band.

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fähigen Gestaltungen führen konnten, noch mehr aber mit krankhaften Bildungs-
trieben angefüllt, welche nun alle plötzlich zu Tage brachen und nach Gestalt
und Wesen strebten. Nachdem die Junikämpfe den Sieg der "blauen" Re¬
publik über den Socialismus-entschieden hatten, brach die Vegetation mit
Macht hervor. Zu ihrer anfänglich raschen und krankhaften Entwickelung,
trug sehr wesentlich die vorübergehende Begünstigung jener wesentlich sociali¬
stischer Unternehmungen bei, mit denen die siegreiche Bourgoisie den auf den
Straßen besiegten, aber in der National-Versammlung selbst noch immer mäch¬
tigen Socialismus abzufinden und die Massen zu versöhnen hoffte. In
diesem Sinne erfolgte im Juli 1848 die Bewilligung einer Staats-
Unterstützun g von Drei Millionen Francs, um die productiven Genossen¬
schaften zu fördern. Was waren die Folgen dieser Unterstützungen durch
den Staat? Die große Mehrzahl der Genossenschaften, welche einen Antheil
an dem Staatskredit erlangten, sind rasch wieder untergegangen. Sehr
viele von denen, welche gleichfalls zu jener Zeit entstanden und keine Unter¬
stützung vom Staate erhielten, entwickelten sich dagegen fort und in schönster
Blüthe. Von etwa 300 Genossenschaften, welche bis Mitte 1849 in Paris
ins Leben traten, hielt sich schon 1851 kaum noch ein Drittel über dem
Wasser, und auch von diesen konnten gar Viele es als ein Glück ansehen,
daß ihnen der Staatsstreich vom December 1852 durch polizeiliche Maßregeln
die Schande des Bankerotts ersparte. Im Sommer 1864 konnte man im
Ganzen nur noch 27 wirklich arbeitende Genossenschaften in Paris entdecken,
in den Provinzen nur noch drei.

Wer hätte glauben wollen, daß sich nach zwanzig Jahren ähnliche Er¬
fahrungen wiederholen könnten, daß im preußischen Staate einer Genossen¬
schaft bedeutende Staats-Unterstützung verliehen werden könne, die dennoch
und trotz aller staatlichen Ober-Aufsicht gänzlich fehlschlagen würde. Wir
lesen nämlich in der Norddeutschen landwirtschaftlichen Zeitung Ur. 50. die
nachfolgende denkwürdige Geschichte einer verunglückten Wiesenanlage:

Im Jahre 1850 erblickte vermittelst königlicher Verordnung das Statut
der "Bockerhaide Meliorations-Genossenschaft in der Gesetzsammlung das Licht
der Welt; die Corporation ward ausgerüstet mit all den stattlichen Privi¬
legien der Expropriation und der Heranziehung und Loslassung der anliegen¬
den Interessenten mittelst Schiedsgerichts ohne eigentliche Rekursinstanz, so
wie mit staatlichem Gelde, denn der Meliorationsfonds des landwirth¬
schaftlichen Ministeriums gab 108,000 Thaler und zwar auf 5 Jahre zins¬
frei, dann mit 3"/g an die Staatskasse zinspflichtig, während mit den
andern 2°/" die Schuld amortisirt und so nach 34 Jahren die Genossenschaft
schuldenfrei werden sollte. Trotz alledem waren statt der beabsichtigten Aus¬
dehnung der Corporation auf 12000 Morgen nur 5200 in den Verband zu


fähigen Gestaltungen führen konnten, noch mehr aber mit krankhaften Bildungs-
trieben angefüllt, welche nun alle plötzlich zu Tage brachen und nach Gestalt
und Wesen strebten. Nachdem die Junikämpfe den Sieg der „blauen" Re¬
publik über den Socialismus-entschieden hatten, brach die Vegetation mit
Macht hervor. Zu ihrer anfänglich raschen und krankhaften Entwickelung,
trug sehr wesentlich die vorübergehende Begünstigung jener wesentlich sociali¬
stischer Unternehmungen bei, mit denen die siegreiche Bourgoisie den auf den
Straßen besiegten, aber in der National-Versammlung selbst noch immer mäch¬
tigen Socialismus abzufinden und die Massen zu versöhnen hoffte. In
diesem Sinne erfolgte im Juli 1848 die Bewilligung einer Staats-
Unterstützun g von Drei Millionen Francs, um die productiven Genossen¬
schaften zu fördern. Was waren die Folgen dieser Unterstützungen durch
den Staat? Die große Mehrzahl der Genossenschaften, welche einen Antheil
an dem Staatskredit erlangten, sind rasch wieder untergegangen. Sehr
viele von denen, welche gleichfalls zu jener Zeit entstanden und keine Unter¬
stützung vom Staate erhielten, entwickelten sich dagegen fort und in schönster
Blüthe. Von etwa 300 Genossenschaften, welche bis Mitte 1849 in Paris
ins Leben traten, hielt sich schon 1851 kaum noch ein Drittel über dem
Wasser, und auch von diesen konnten gar Viele es als ein Glück ansehen,
daß ihnen der Staatsstreich vom December 1852 durch polizeiliche Maßregeln
die Schande des Bankerotts ersparte. Im Sommer 1864 konnte man im
Ganzen nur noch 27 wirklich arbeitende Genossenschaften in Paris entdecken,
in den Provinzen nur noch drei.

Wer hätte glauben wollen, daß sich nach zwanzig Jahren ähnliche Er¬
fahrungen wiederholen könnten, daß im preußischen Staate einer Genossen¬
schaft bedeutende Staats-Unterstützung verliehen werden könne, die dennoch
und trotz aller staatlichen Ober-Aufsicht gänzlich fehlschlagen würde. Wir
lesen nämlich in der Norddeutschen landwirtschaftlichen Zeitung Ur. 50. die
nachfolgende denkwürdige Geschichte einer verunglückten Wiesenanlage:

Im Jahre 1850 erblickte vermittelst königlicher Verordnung das Statut
der „Bockerhaide Meliorations-Genossenschaft in der Gesetzsammlung das Licht
der Welt; die Corporation ward ausgerüstet mit all den stattlichen Privi¬
legien der Expropriation und der Heranziehung und Loslassung der anliegen¬
den Interessenten mittelst Schiedsgerichts ohne eigentliche Rekursinstanz, so
wie mit staatlichem Gelde, denn der Meliorationsfonds des landwirth¬
schaftlichen Ministeriums gab 108,000 Thaler und zwar auf 5 Jahre zins¬
frei, dann mit 3"/g an die Staatskasse zinspflichtig, während mit den
andern 2°/» die Schuld amortisirt und so nach 34 Jahren die Genossenschaft
schuldenfrei werden sollte. Trotz alledem waren statt der beabsichtigten Aus¬
dehnung der Corporation auf 12000 Morgen nur 5200 in den Verband zu


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120192/323>, abgerufen am 28.09.2024.