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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band.

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Hafen entlang führende Straße ein. Wrei Dinge sind es, die da d em Frem¬
den in der Oeffentlichkeit dieses Lebens sofort höchlichst überraschen. Zunächst
erstaunt er zu entdecken, daß die in der Ferne so hellschimmernde Parthenope
bis über die Knöchel im ungeheuersten Schmutze watet. Das ist auch eine
Folge der Sorglosigkeit des Neapolitaners, der nicht so weit in die nächste
Stunde hineindenkt, daß er die Abfälle der gegenwärtigen beseitigt. Er
denkt nie an Reinigung seines Hauses oder seiner Person, wenn er nicht zu
den oben erwähnten Wasserspringern gehört; -- ich spreche hier natürlich
nur von Denen, deren Leben vorzugsweise auf der Straße ist, aber ihre
Zahl ist Legion. Mit dem Schmutze verbinden sich die unsäglichsten Gerüche,
in deren Composition der Neapolitaner geradezu Virtuose ist. Von ihm
selbst sagt man, daß ihm der fünfte Sinn fehle; wir Andern genießen seiner
Werke desto mehr. Das Zweite, was uns auffällt, ist das unablässige Ge¬
schrei auf den Straßen. Was irgend ausgeboten wird, Eiswasser, Orangen,
Aepfel, Pinienzapfen, Feigen, Fische. Schwefelhölzer, Cigarrenstummel-- es
wird Alles schreiend ausgeboten. Und der Neapolitaner schreit ganz eigen¬
thümlich. Er reißt den Mund auf, daß man beide Zahnreihen vollständig
sieht, setzt den Ton mit durchdringendster Energie ein, zieht ihn durch zwei,
drei kleine Intervalle hindurch und verbraucht endlich den Rest von Athem
in irgend einer ganz unerwarteten Tonart. Es ist als käme der Ton gerade
eben in die Freiheit und wüßte vor Entzücken nicht wohin. Dabei sieht
man dem Schreier den Genuß seines Geschreis auf dem Gesichte spielen, wie
dem Hahn bei seinem Kikeriki. Gesungen wird auch viel, und nicht blos
von Leuten, die dasür Geld sammeln: der Eseltreiber, der Kutscher, der kleine
faullenzende Lazzarone, sie singen oder summen sich ihre Weisen. Das Dritte,
was den Fremden überrascht, aber angenehm berührt, wenn er irgend ein
Auge dafür hat, ist die ausdrucksvolle Lebendigkeit und Schönheit aller Be¬
wegungen. Das ist eine Folge der Wärme, welche die Menschen jahraus,
jahrein genießen. Wärme los't die Glieder. Kälte fesselt sie. In diesem
warmen Klima folgt das Glied entweder ganz seiner eigenen Schwerkraft --
und dies gibt die völlig gelassenen Stellungen, die wir so oft auf italienischen
Bildern und an Antiken bewundern -- oder es folgt ganz und unbehindert
der Intention, die es in Bewegung setzt. Bei uns erscheint es in der Ruhe
wie in der Spannung immer ein wenig verklemmt und contract, der Körper
überhaupt fester und gedrungener. Es ist wahrlich keine Einbildung mit der
classischen Schönheit der Bewegungen des Neapolitaners-. Nur wissen sie Viele
vor Schmutz und Lumpen nicht zu sehen. Aber Schönheit des Angesichts
findet man hier gerade nicht häufig, besonders nicht unter den Frauen, die
ungemein rasch altern.

Kommt man von Portici her in die Stadt -- beide Orte schließen un-


Hafen entlang führende Straße ein. Wrei Dinge sind es, die da d em Frem¬
den in der Oeffentlichkeit dieses Lebens sofort höchlichst überraschen. Zunächst
erstaunt er zu entdecken, daß die in der Ferne so hellschimmernde Parthenope
bis über die Knöchel im ungeheuersten Schmutze watet. Das ist auch eine
Folge der Sorglosigkeit des Neapolitaners, der nicht so weit in die nächste
Stunde hineindenkt, daß er die Abfälle der gegenwärtigen beseitigt. Er
denkt nie an Reinigung seines Hauses oder seiner Person, wenn er nicht zu
den oben erwähnten Wasserspringern gehört; — ich spreche hier natürlich
nur von Denen, deren Leben vorzugsweise auf der Straße ist, aber ihre
Zahl ist Legion. Mit dem Schmutze verbinden sich die unsäglichsten Gerüche,
in deren Composition der Neapolitaner geradezu Virtuose ist. Von ihm
selbst sagt man, daß ihm der fünfte Sinn fehle; wir Andern genießen seiner
Werke desto mehr. Das Zweite, was uns auffällt, ist das unablässige Ge¬
schrei auf den Straßen. Was irgend ausgeboten wird, Eiswasser, Orangen,
Aepfel, Pinienzapfen, Feigen, Fische. Schwefelhölzer, Cigarrenstummel— es
wird Alles schreiend ausgeboten. Und der Neapolitaner schreit ganz eigen¬
thümlich. Er reißt den Mund auf, daß man beide Zahnreihen vollständig
sieht, setzt den Ton mit durchdringendster Energie ein, zieht ihn durch zwei,
drei kleine Intervalle hindurch und verbraucht endlich den Rest von Athem
in irgend einer ganz unerwarteten Tonart. Es ist als käme der Ton gerade
eben in die Freiheit und wüßte vor Entzücken nicht wohin. Dabei sieht
man dem Schreier den Genuß seines Geschreis auf dem Gesichte spielen, wie
dem Hahn bei seinem Kikeriki. Gesungen wird auch viel, und nicht blos
von Leuten, die dasür Geld sammeln: der Eseltreiber, der Kutscher, der kleine
faullenzende Lazzarone, sie singen oder summen sich ihre Weisen. Das Dritte,
was den Fremden überrascht, aber angenehm berührt, wenn er irgend ein
Auge dafür hat, ist die ausdrucksvolle Lebendigkeit und Schönheit aller Be¬
wegungen. Das ist eine Folge der Wärme, welche die Menschen jahraus,
jahrein genießen. Wärme los't die Glieder. Kälte fesselt sie. In diesem
warmen Klima folgt das Glied entweder ganz seiner eigenen Schwerkraft —
und dies gibt die völlig gelassenen Stellungen, die wir so oft auf italienischen
Bildern und an Antiken bewundern — oder es folgt ganz und unbehindert
der Intention, die es in Bewegung setzt. Bei uns erscheint es in der Ruhe
wie in der Spannung immer ein wenig verklemmt und contract, der Körper
überhaupt fester und gedrungener. Es ist wahrlich keine Einbildung mit der
classischen Schönheit der Bewegungen des Neapolitaners-. Nur wissen sie Viele
vor Schmutz und Lumpen nicht zu sehen. Aber Schönheit des Angesichts
findet man hier gerade nicht häufig, besonders nicht unter den Frauen, die
ungemein rasch altern.

Kommt man von Portici her in die Stadt — beide Orte schließen un-


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[0273] Hafen entlang führende Straße ein. Wrei Dinge sind es, die da d em Frem¬ den in der Oeffentlichkeit dieses Lebens sofort höchlichst überraschen. Zunächst erstaunt er zu entdecken, daß die in der Ferne so hellschimmernde Parthenope bis über die Knöchel im ungeheuersten Schmutze watet. Das ist auch eine Folge der Sorglosigkeit des Neapolitaners, der nicht so weit in die nächste Stunde hineindenkt, daß er die Abfälle der gegenwärtigen beseitigt. Er denkt nie an Reinigung seines Hauses oder seiner Person, wenn er nicht zu den oben erwähnten Wasserspringern gehört; — ich spreche hier natürlich nur von Denen, deren Leben vorzugsweise auf der Straße ist, aber ihre Zahl ist Legion. Mit dem Schmutze verbinden sich die unsäglichsten Gerüche, in deren Composition der Neapolitaner geradezu Virtuose ist. Von ihm selbst sagt man, daß ihm der fünfte Sinn fehle; wir Andern genießen seiner Werke desto mehr. Das Zweite, was uns auffällt, ist das unablässige Ge¬ schrei auf den Straßen. Was irgend ausgeboten wird, Eiswasser, Orangen, Aepfel, Pinienzapfen, Feigen, Fische. Schwefelhölzer, Cigarrenstummel— es wird Alles schreiend ausgeboten. Und der Neapolitaner schreit ganz eigen¬ thümlich. Er reißt den Mund auf, daß man beide Zahnreihen vollständig sieht, setzt den Ton mit durchdringendster Energie ein, zieht ihn durch zwei, drei kleine Intervalle hindurch und verbraucht endlich den Rest von Athem in irgend einer ganz unerwarteten Tonart. Es ist als käme der Ton gerade eben in die Freiheit und wüßte vor Entzücken nicht wohin. Dabei sieht man dem Schreier den Genuß seines Geschreis auf dem Gesichte spielen, wie dem Hahn bei seinem Kikeriki. Gesungen wird auch viel, und nicht blos von Leuten, die dasür Geld sammeln: der Eseltreiber, der Kutscher, der kleine faullenzende Lazzarone, sie singen oder summen sich ihre Weisen. Das Dritte, was den Fremden überrascht, aber angenehm berührt, wenn er irgend ein Auge dafür hat, ist die ausdrucksvolle Lebendigkeit und Schönheit aller Be¬ wegungen. Das ist eine Folge der Wärme, welche die Menschen jahraus, jahrein genießen. Wärme los't die Glieder. Kälte fesselt sie. In diesem warmen Klima folgt das Glied entweder ganz seiner eigenen Schwerkraft — und dies gibt die völlig gelassenen Stellungen, die wir so oft auf italienischen Bildern und an Antiken bewundern — oder es folgt ganz und unbehindert der Intention, die es in Bewegung setzt. Bei uns erscheint es in der Ruhe wie in der Spannung immer ein wenig verklemmt und contract, der Körper überhaupt fester und gedrungener. Es ist wahrlich keine Einbildung mit der classischen Schönheit der Bewegungen des Neapolitaners-. Nur wissen sie Viele vor Schmutz und Lumpen nicht zu sehen. Aber Schönheit des Angesichts findet man hier gerade nicht häufig, besonders nicht unter den Frauen, die ungemein rasch altern. Kommt man von Portici her in die Stadt — beide Orte schließen un-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120192/273>, abgerufen am 28.09.2024.