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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band.

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made an der Straße, nach wie vor spielen kleine Hemdenmätze im sonnendurch¬
wärmten Sande, springen größere Schlingel für einen Soldo ins Meer,
tauchen andere zu ihrem Erwerb nach Knochen und sonstigen versunkenen
Kostbarkeiten, und die Farbe ihrer Haut bleibt dabei so golden wie im
Sommer. Auch' die vornehme Welt findet keine Veranlassung zu andrer
Tageszeit, als im Sommer, vor die Oeffentlichkeit zu treten; sie fährt ihren
Corso nach wie vor um 4 Uhr. Das Leben bleibt durchaus öffentlich, das
Haus nur ein Unterkommen, die Straße der eigentliche gemeinschaftliche
Saal, Spiel- und Tummelplatz für Alle.

Es giebt hier also keine Zeit, welche dem Menschen die lustige Bunt¬
heit und Bewegtheit des Lebens raubte und ihn mit Gewalt von Außen
nach Innen drängte. Wir Nordländer leben im Sommer, von der Natur
gelockt, mehr genießend nach Außen, im Winter mehr reflectirend und pro-
ducirend nach Innen. Und was erwarten wir nicht Alles vom Wechsel der
Jahreszeiten! Neue Aufgaben, neue Beschäftigungen, neuen Verkehr, die
Wiederanknüpfung zerrissener Verhältnisse, die Auflösung solcher, die uns un¬
bequem geworden sind, ganz neue Wendungen für unser inneres und äußeres
Leben. --

Nun muß sich Alles, Alles wenden -- so erwarten wir's vom Früh¬
jahr, so vom Winter. Alle diese starken Abschnitte, die den Menschen zum
Stillestehen und zur Betrachtung seiner selbst nöthigen, die ihm Gelegenheit
geben, sich seinen eigenen geistigen Gehalt erst bewußt und gegenwärtig zu
machen, sie existiren für den Südländer nicht. Er bleibt stets nach Außen
gewandt, stets darauf gerichtet, den Augenblick rasch zu ergreifen, stets außer
sich, weder vor noch rückwärts denkend. Er lebt nicht im Gedanken, sondern
nur im Handeln und Genießen; er ist daher in jedem Momente ganz er
selbst und nie beirrt durch Unterscheidungen und Theorieen, die aus der Re¬
flexion und aus dem Ernste des Gewissens stammen. Ueber nichts macht er
sich Gedanken: er mengt Arbeit und Genuß, Ernst und Scherz, Heiliges und
Ueppiges ganz naiv durcheinander. Der Neapolitaner arbeitet auf der Straße,
um jeden Augenblick dabei seinen Spaß und seine Unterhaltung zu haben,
er sieht am Abend "die Geburt des menschgewordenen Wortes" und ein
schönes neues dreiaktiges Ballet auf einer und derselben Scene, und wieder
die Kirche macht er sich zum Schauspielhause. Da muß er zur Feier des
Auserstehungsfestes unter dem Schleier der Madonna Vögel ausfliegen sehen;
da muß sich das Blut des armen Januarius, unbekümmert um alle Kalen¬
derstile, von je am 19. September und am 3. Mai jedes Jahres vor der
Menge noch einmal in Fluß setzen.

Gut, daß Januarius und einige Andere ein für alle Mal das Schwerste
geleistet haben, was vom Menschen zu fordern ist, mögen diejenigen die reli-


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made an der Straße, nach wie vor spielen kleine Hemdenmätze im sonnendurch¬
wärmten Sande, springen größere Schlingel für einen Soldo ins Meer,
tauchen andere zu ihrem Erwerb nach Knochen und sonstigen versunkenen
Kostbarkeiten, und die Farbe ihrer Haut bleibt dabei so golden wie im
Sommer. Auch' die vornehme Welt findet keine Veranlassung zu andrer
Tageszeit, als im Sommer, vor die Oeffentlichkeit zu treten; sie fährt ihren
Corso nach wie vor um 4 Uhr. Das Leben bleibt durchaus öffentlich, das
Haus nur ein Unterkommen, die Straße der eigentliche gemeinschaftliche
Saal, Spiel- und Tummelplatz für Alle.

Es giebt hier also keine Zeit, welche dem Menschen die lustige Bunt¬
heit und Bewegtheit des Lebens raubte und ihn mit Gewalt von Außen
nach Innen drängte. Wir Nordländer leben im Sommer, von der Natur
gelockt, mehr genießend nach Außen, im Winter mehr reflectirend und pro-
ducirend nach Innen. Und was erwarten wir nicht Alles vom Wechsel der
Jahreszeiten! Neue Aufgaben, neue Beschäftigungen, neuen Verkehr, die
Wiederanknüpfung zerrissener Verhältnisse, die Auflösung solcher, die uns un¬
bequem geworden sind, ganz neue Wendungen für unser inneres und äußeres
Leben. —

Nun muß sich Alles, Alles wenden — so erwarten wir's vom Früh¬
jahr, so vom Winter. Alle diese starken Abschnitte, die den Menschen zum
Stillestehen und zur Betrachtung seiner selbst nöthigen, die ihm Gelegenheit
geben, sich seinen eigenen geistigen Gehalt erst bewußt und gegenwärtig zu
machen, sie existiren für den Südländer nicht. Er bleibt stets nach Außen
gewandt, stets darauf gerichtet, den Augenblick rasch zu ergreifen, stets außer
sich, weder vor noch rückwärts denkend. Er lebt nicht im Gedanken, sondern
nur im Handeln und Genießen; er ist daher in jedem Momente ganz er
selbst und nie beirrt durch Unterscheidungen und Theorieen, die aus der Re¬
flexion und aus dem Ernste des Gewissens stammen. Ueber nichts macht er
sich Gedanken: er mengt Arbeit und Genuß, Ernst und Scherz, Heiliges und
Ueppiges ganz naiv durcheinander. Der Neapolitaner arbeitet auf der Straße,
um jeden Augenblick dabei seinen Spaß und seine Unterhaltung zu haben,
er sieht am Abend „die Geburt des menschgewordenen Wortes" und ein
schönes neues dreiaktiges Ballet auf einer und derselben Scene, und wieder
die Kirche macht er sich zum Schauspielhause. Da muß er zur Feier des
Auserstehungsfestes unter dem Schleier der Madonna Vögel ausfliegen sehen;
da muß sich das Blut des armen Januarius, unbekümmert um alle Kalen¬
derstile, von je am 19. September und am 3. Mai jedes Jahres vor der
Menge noch einmal in Fluß setzen.

Gut, daß Januarius und einige Andere ein für alle Mal das Schwerste
geleistet haben, was vom Menschen zu fordern ist, mögen diejenigen die reli-


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[0271] made an der Straße, nach wie vor spielen kleine Hemdenmätze im sonnendurch¬ wärmten Sande, springen größere Schlingel für einen Soldo ins Meer, tauchen andere zu ihrem Erwerb nach Knochen und sonstigen versunkenen Kostbarkeiten, und die Farbe ihrer Haut bleibt dabei so golden wie im Sommer. Auch' die vornehme Welt findet keine Veranlassung zu andrer Tageszeit, als im Sommer, vor die Oeffentlichkeit zu treten; sie fährt ihren Corso nach wie vor um 4 Uhr. Das Leben bleibt durchaus öffentlich, das Haus nur ein Unterkommen, die Straße der eigentliche gemeinschaftliche Saal, Spiel- und Tummelplatz für Alle. Es giebt hier also keine Zeit, welche dem Menschen die lustige Bunt¬ heit und Bewegtheit des Lebens raubte und ihn mit Gewalt von Außen nach Innen drängte. Wir Nordländer leben im Sommer, von der Natur gelockt, mehr genießend nach Außen, im Winter mehr reflectirend und pro- ducirend nach Innen. Und was erwarten wir nicht Alles vom Wechsel der Jahreszeiten! Neue Aufgaben, neue Beschäftigungen, neuen Verkehr, die Wiederanknüpfung zerrissener Verhältnisse, die Auflösung solcher, die uns un¬ bequem geworden sind, ganz neue Wendungen für unser inneres und äußeres Leben. — Nun muß sich Alles, Alles wenden — so erwarten wir's vom Früh¬ jahr, so vom Winter. Alle diese starken Abschnitte, die den Menschen zum Stillestehen und zur Betrachtung seiner selbst nöthigen, die ihm Gelegenheit geben, sich seinen eigenen geistigen Gehalt erst bewußt und gegenwärtig zu machen, sie existiren für den Südländer nicht. Er bleibt stets nach Außen gewandt, stets darauf gerichtet, den Augenblick rasch zu ergreifen, stets außer sich, weder vor noch rückwärts denkend. Er lebt nicht im Gedanken, sondern nur im Handeln und Genießen; er ist daher in jedem Momente ganz er selbst und nie beirrt durch Unterscheidungen und Theorieen, die aus der Re¬ flexion und aus dem Ernste des Gewissens stammen. Ueber nichts macht er sich Gedanken: er mengt Arbeit und Genuß, Ernst und Scherz, Heiliges und Ueppiges ganz naiv durcheinander. Der Neapolitaner arbeitet auf der Straße, um jeden Augenblick dabei seinen Spaß und seine Unterhaltung zu haben, er sieht am Abend „die Geburt des menschgewordenen Wortes" und ein schönes neues dreiaktiges Ballet auf einer und derselben Scene, und wieder die Kirche macht er sich zum Schauspielhause. Da muß er zur Feier des Auserstehungsfestes unter dem Schleier der Madonna Vögel ausfliegen sehen; da muß sich das Blut des armen Januarius, unbekümmert um alle Kalen¬ derstile, von je am 19. September und am 3. Mai jedes Jahres vor der Menge noch einmal in Fluß setzen. Gut, daß Januarius und einige Andere ein für alle Mal das Schwerste geleistet haben, was vom Menschen zu fordern ist, mögen diejenigen die reli- 33'

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120192/271>, abgerufen am 28.09.2024.