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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band.

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augenscheinlicher Vorliebe sind solche Compositionen wiederholt, deren Haupt¬
figur schlafend gegeben werden konnte: Selene, die des Nachts Endymion
besucht, Dionysos, wie er Ariadne findet. Mars bei Rhea Silvia. Bei weitem
die reichste Classe von Sarkophagdarstellungen aber bewegt sich im Kreise
des Dionysos und schildert in bewundernswürdiger Mannigfaltigkeit der
Stimmung seine Schicksale und seinen Cultus, den stillen Ernst und die tolle
Ausgelassenheit seines ihn feiernden Gefolges. Unmittelbar verwandt schließt
sich die Classe der Darstellungen des an phantastischen Bildungen so über¬
reichen Meerthiasos an. Man hat diese als eine Anspielung auf die Inseln
der Seligen aufgefaßt, in jener einen Hinweis auf die Mysterien gesehen,
auf den Zustand der Eingeweihten, die nach der berühmten Stelle in Aristo-
phanes Fröschen im Reiche Plutons den Gott der Mysterien Jankndos feiern.
Beides ohne sichere Begründung. Und so haben sich denn auch Deutungen
anderer Art daneben Geltung verschafft, welche aber alle darin einig sind,
daß diese Darstellungen eine Beziehung auf das jenseitige Leben in vielen
Fällen nicht nur zulassen, sondern fordern. Wenn gerade hier die Vieldeutig¬
keit des Gegenstandes die Sicherheit der Erkenntniß in jedem einzelnen Fall
erschwert, sodaß die jüngste Forschung nicht ohne Grund gegenüber der
älteren von der Romantik beeinflußten Erklärungsweise sich mehr zuwartend
verhält, so wird nur einer zusammenfassenden Untersuchung die Lösung der
schwierigen und durch ihre Unbequemheit nichts beseitigten Aufgabe gelingen
können.

Zu ungleich bestimmteren Ergebnissen ist die kunsthistorische Ausbeutung
der Sarkophagdarstellungen gelangt. Auf dem Wege einer genauen Ver-
gleichung der Compositionen untereinander und einer strengen Analyse ihrer
Bestandtheile hat man bisher in vielen Fällen mit Glück verschiedene Zeiten
der Erfindung, verschiedene Classen von Originalen nachgewiesen; und je
Wetter dieser Proceß der Zersetzung des gesammten Vorraths fortschreitet,
desto reicheren und sicherern Gewinn scheint er zu versprechen. Da oft von
einer und derselben Composition zahlreiche mehr oder minder abweichende
Wiederholungen vorliegen, so galt es zunächst, sich eines Merkmals zu ver¬
sichern, um innerhalb einer solchen Familie das Aeltere von dem Spätern,
das Ursprüngliche von dem Abgeleiteten zu unterscheiden. Bedeutenden
Fingerzeig konnte dabei die Geschichte der griechischen Vasenmalerei bieten.
In dem gemalten Schmuck griechischer Vasen, welcher ursprünglich von dem
bloßen Ornament ausgeht, , dann zu einer streng symmetrischen Verbindung
von Figuren fortschreitet und erst spät allmälig Compositionen zeigt, denen
volle künstlerische Freiheit des Raumgefühls nachgerühmt werden kann, tritt
in den Zeiten des Verfalls die Bedeutung der Composition als solcher zurück
vor dem Bestreben, den gegebenen Raum auszufüllen. Wie die späten unter-


augenscheinlicher Vorliebe sind solche Compositionen wiederholt, deren Haupt¬
figur schlafend gegeben werden konnte: Selene, die des Nachts Endymion
besucht, Dionysos, wie er Ariadne findet. Mars bei Rhea Silvia. Bei weitem
die reichste Classe von Sarkophagdarstellungen aber bewegt sich im Kreise
des Dionysos und schildert in bewundernswürdiger Mannigfaltigkeit der
Stimmung seine Schicksale und seinen Cultus, den stillen Ernst und die tolle
Ausgelassenheit seines ihn feiernden Gefolges. Unmittelbar verwandt schließt
sich die Classe der Darstellungen des an phantastischen Bildungen so über¬
reichen Meerthiasos an. Man hat diese als eine Anspielung auf die Inseln
der Seligen aufgefaßt, in jener einen Hinweis auf die Mysterien gesehen,
auf den Zustand der Eingeweihten, die nach der berühmten Stelle in Aristo-
phanes Fröschen im Reiche Plutons den Gott der Mysterien Jankndos feiern.
Beides ohne sichere Begründung. Und so haben sich denn auch Deutungen
anderer Art daneben Geltung verschafft, welche aber alle darin einig sind,
daß diese Darstellungen eine Beziehung auf das jenseitige Leben in vielen
Fällen nicht nur zulassen, sondern fordern. Wenn gerade hier die Vieldeutig¬
keit des Gegenstandes die Sicherheit der Erkenntniß in jedem einzelnen Fall
erschwert, sodaß die jüngste Forschung nicht ohne Grund gegenüber der
älteren von der Romantik beeinflußten Erklärungsweise sich mehr zuwartend
verhält, so wird nur einer zusammenfassenden Untersuchung die Lösung der
schwierigen und durch ihre Unbequemheit nichts beseitigten Aufgabe gelingen
können.

Zu ungleich bestimmteren Ergebnissen ist die kunsthistorische Ausbeutung
der Sarkophagdarstellungen gelangt. Auf dem Wege einer genauen Ver-
gleichung der Compositionen untereinander und einer strengen Analyse ihrer
Bestandtheile hat man bisher in vielen Fällen mit Glück verschiedene Zeiten
der Erfindung, verschiedene Classen von Originalen nachgewiesen; und je
Wetter dieser Proceß der Zersetzung des gesammten Vorraths fortschreitet,
desto reicheren und sicherern Gewinn scheint er zu versprechen. Da oft von
einer und derselben Composition zahlreiche mehr oder minder abweichende
Wiederholungen vorliegen, so galt es zunächst, sich eines Merkmals zu ver¬
sichern, um innerhalb einer solchen Familie das Aeltere von dem Spätern,
das Ursprüngliche von dem Abgeleiteten zu unterscheiden. Bedeutenden
Fingerzeig konnte dabei die Geschichte der griechischen Vasenmalerei bieten.
In dem gemalten Schmuck griechischer Vasen, welcher ursprünglich von dem
bloßen Ornament ausgeht, , dann zu einer streng symmetrischen Verbindung
von Figuren fortschreitet und erst spät allmälig Compositionen zeigt, denen
volle künstlerische Freiheit des Raumgefühls nachgerühmt werden kann, tritt
in den Zeiten des Verfalls die Bedeutung der Composition als solcher zurück
vor dem Bestreben, den gegebenen Raum auszufüllen. Wie die späten unter-


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[0264] augenscheinlicher Vorliebe sind solche Compositionen wiederholt, deren Haupt¬ figur schlafend gegeben werden konnte: Selene, die des Nachts Endymion besucht, Dionysos, wie er Ariadne findet. Mars bei Rhea Silvia. Bei weitem die reichste Classe von Sarkophagdarstellungen aber bewegt sich im Kreise des Dionysos und schildert in bewundernswürdiger Mannigfaltigkeit der Stimmung seine Schicksale und seinen Cultus, den stillen Ernst und die tolle Ausgelassenheit seines ihn feiernden Gefolges. Unmittelbar verwandt schließt sich die Classe der Darstellungen des an phantastischen Bildungen so über¬ reichen Meerthiasos an. Man hat diese als eine Anspielung auf die Inseln der Seligen aufgefaßt, in jener einen Hinweis auf die Mysterien gesehen, auf den Zustand der Eingeweihten, die nach der berühmten Stelle in Aristo- phanes Fröschen im Reiche Plutons den Gott der Mysterien Jankndos feiern. Beides ohne sichere Begründung. Und so haben sich denn auch Deutungen anderer Art daneben Geltung verschafft, welche aber alle darin einig sind, daß diese Darstellungen eine Beziehung auf das jenseitige Leben in vielen Fällen nicht nur zulassen, sondern fordern. Wenn gerade hier die Vieldeutig¬ keit des Gegenstandes die Sicherheit der Erkenntniß in jedem einzelnen Fall erschwert, sodaß die jüngste Forschung nicht ohne Grund gegenüber der älteren von der Romantik beeinflußten Erklärungsweise sich mehr zuwartend verhält, so wird nur einer zusammenfassenden Untersuchung die Lösung der schwierigen und durch ihre Unbequemheit nichts beseitigten Aufgabe gelingen können. Zu ungleich bestimmteren Ergebnissen ist die kunsthistorische Ausbeutung der Sarkophagdarstellungen gelangt. Auf dem Wege einer genauen Ver- gleichung der Compositionen untereinander und einer strengen Analyse ihrer Bestandtheile hat man bisher in vielen Fällen mit Glück verschiedene Zeiten der Erfindung, verschiedene Classen von Originalen nachgewiesen; und je Wetter dieser Proceß der Zersetzung des gesammten Vorraths fortschreitet, desto reicheren und sicherern Gewinn scheint er zu versprechen. Da oft von einer und derselben Composition zahlreiche mehr oder minder abweichende Wiederholungen vorliegen, so galt es zunächst, sich eines Merkmals zu ver¬ sichern, um innerhalb einer solchen Familie das Aeltere von dem Spätern, das Ursprüngliche von dem Abgeleiteten zu unterscheiden. Bedeutenden Fingerzeig konnte dabei die Geschichte der griechischen Vasenmalerei bieten. In dem gemalten Schmuck griechischer Vasen, welcher ursprünglich von dem bloßen Ornament ausgeht, , dann zu einer streng symmetrischen Verbindung von Figuren fortschreitet und erst spät allmälig Compositionen zeigt, denen volle künstlerische Freiheit des Raumgefühls nachgerühmt werden kann, tritt in den Zeiten des Verfalls die Bedeutung der Composition als solcher zurück vor dem Bestreben, den gegebenen Raum auszufüllen. Wie die späten unter-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120192/264>, abgerufen am 28.09.2024.